Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 04/2022

Versuch einer Standortbestimmung
von Angela Klein

«Auf welcher Seite stehst du?», sang einst der verstorbene Liedermacher Walter Mossmann anlässlich der Platzbesetzung gegen das geplante AKW Wyhl. Die Frage ist heute nicht so leicht zu beantworten wie damals.

Tatsächlich hat ein großer Teil der Linken in den letzten Wochen eine dramatische Kehrtwende vollzogen: Erst war die NATO schuld am russischen Aufmarsch an den Grenzen zur Ukraine und ein russischer Angriff wurde vollmundig ausgeschlossen. Dann, als die russischen Truppen angriffen, verschwand die NATO ganz und gar aus dem Blickfeld und aus den Erklärungen. Das ist inhaltlich nicht gerechtfertigt und politisch gefährlich.

1. Der russische Angriff auf die Ukraine ist als imperialistischer Akt rundum abzulehnen. Diese Haltung hat erfreulicherweise auch die Mehrzahl der «offiziellen» Kommunistischen Parteien in Europa eingenommen, mit Ausnahme der DKP-Führung (Stand: 13.3.; in der Mitgliedschaft sieht es zum Teil anders aus). Es gibt nichts, was die Aggression rechtfertigen würde – auch nicht die aktive Einkreisungspolitik seitens der NATO, die tatsächlich den Hintergrund für das russische Vorgehen bildet. Die russische Regierung behandelt die Ukraine als eine Spielfigur auf dem Schachbrett seiner geopolitischen Interessen – wie zuvor schon Georgien, Tschetschenien, Syrien, Kasachstan u.a. – und tritt die Belange der Bevölkerungen mit Füßen. Dagegen setzen sich diese zur Wehr und das verdient unsere Unterstützung.

2. Indem wir das tun, scheinen wir auf der Seite der NATO und der Bundesregierung zu stehen, die aus ganz anderen Interessen und Beweggründen ebenfalls den russischen Angriff geißelt.
Verstärkt wird dieses Moment dadurch, dass die ukrainische Bevölkerung – nicht nur ihr Präsident! – laut nach dem Schutz der NATO ruft. Diese Haltung ist verständlich, aber wir teilen sie politisch nicht. Die USA und die NATO haben zehnmal mehr imperialistische Kriege auf dem Kerbholz und auch für sie ist die Ukraine nur eine Figur auf dem Schachbrett. Sie gehen nur anders vor, sie setzen ihre geballte Wirtschaftsmacht ein, um Länder von sich abhängig zu machen. Und wenn diese sich nicht fügen, wie Saddam Hussein im Irak, werden sie mit einer überwältigenden militärischen Übermacht bombardiert.
Man versteht diesen Krieg nicht, wenn man Russlands Angriff auf die Ukraine losgelöst sieht von der Rivalität zwischen den Atommächten USA und Russland. Die russische Armee greift ein Land an, das nicht der NATO angehört, aber Putins Forderungen richten sich an die NATO, die Ukraine sitzt nicht mal am Verhandlungstisch. Der Krieg bezweckt eine Verhaltensänderung bei der NATO, aber bombardiert wird die ukrainische Bevölkerung, die darauf überhaupt keinen Einfluss hat. Linke müssen deshalb uneingeschränkt das Recht der ukrainischen Bevölkerung auf Selbstbestimmung und – das folgt daraus – auf ihren unbewaffneten wie bewaffneten Widerstand verteidigen.

3. Das bedeutet nicht, dass wir auf der Seite der ukrainischen Regierung stehen, deren Präsident sich zum Büttel der US-amerikanischen Interessen gemacht hat und selber ein gerüttelt Maß Verantwortung dafür trägt, dass die Situation an der Grenze zur Ost-Ukraine eskalieren konnte. Die Regierung Selenskyj ist ein Oligarchenregierung, die selbst viele Jahre versucht hat, mit Waffengewalt die Kontrolle über die russisch besetzten Gebiete wiederzuerlangen.
Linke müssen die Kräfte in der Ukraine unterstützen, die nicht nur die russische Invasion, sondern auch das ukrainische Oligarchenregime bekämpfen. Direkte Kontakte zur Zivilgesellschaft und humanitäre Hilfe sind hier die ersten Maßnahmen. Es sind bereits Gewerkschafterkonvois unterwegs, die Hilfsgüter bringen, aber auch Kontakt zu Belegschaften herstellen wollen, um eine gemeinsame Interessenbasis jenseits des nationalistischen Eifers zu suchen.
Dasselbe gilt für die Antikriegsbewegung in Russland. Sie verdient nicht nur unsere Bewunderung, ihre Unterstützung ist vielmehr das wichtigste Druckmittel, nicht nur um den Krieg zu beenden, sondern auch um Putin loszuwerden.

4. Gegen einen bewaffneten Überfall muss man sich auch mit Waffen verteidigen können. Die Frage erhebt sich aber, ob Linke Waffenlieferungen fordern sollten.
Tatsache ist, dass NATO-Länder seit Jahren Waffen in die Ukraine liefern, nicht zuletzt die Türkei, die mit der Lieferung von Drohnen im vergangenen Jahr den Waffengang Russlands möglicherweise sogar ausgelöst hat. «Es ist in der Ukraine leichter, an Waffen zu kommen als an Brot», sagen Ukrainer. Mit dieser Forderung rennen Linke also offene Türen ein. Selenskyj aber meint etwas anderes, wenn er Deutschland und die NATO dafür angreift, nicht genug Waffen zu liefern. Er meint nicht Waffen für den Straßenkampf, sondern strategische Waffen (etwa Jagdbomber), die die NATO unmittelbar zur Kriegspartei machen würden. Er will, dass die NATO eine Flugverbotszone über der Ukraine errichtet, was bedeutet, dass sie russische Flieger abschießen müsste – d.h. für die Freiheit der Ukraine einen dritten Weltkrieg riskiert.
Das können Linke nicht wollen. Nicht nur, weil dann auch von der Ukraine nichts mehr übrig bliebe. Sondern weil kein noch so legitimer Gebietsanspruch rechtfertigt, dass unbeteiligte Menschen dafür ihr Leben opfern müssen. Lenin hat 1918 um dieses Grundsatzes willen im Frieden von Brest-Litowsk auf die baltischen Staaten und die Ukraine verzichtet – was Putin ihm bis heute schwer ankreidet. Es war aber genau der richtige Weg, um die Kriegshandlungen im Osten zu beenden.

5. Die Frage ist, für welches Ziel Waffen geführt werden. Russland will die Entmilitarisierung und sog. «Entnazifizierung» der Ukraine. Die ukrainische Regierung will die Ostgebiete und die Krim zurück. Das will die NATO auch. Im Sinne einer Entzerrung der Konfliktlinien wäre eine Neutralität der Ukraine richtig – das muss nicht Entmilitarisierung heißen, aber Verzicht auf bestimmte Waffengattungen, Bündnisfreiheit, möglicherweise UN-Verwaltung usw.
Dafür muss aber auch die NATO ­eine Einigung mit Russland wollen – bisher besagen Äußerungen aus NATO-Kreisen aber nur, dass «mindestens in den nächsten 15 Jahren» nicht geplant sei, die Ukraine in die NATO aufzunehmen. Eine höchst schwammige Formulierung, die befürchten lässt, dass die westliche Nadelstichpoliik weiter betrieben wird. Jedenfalls müsste dieses Ziel aus der ukrainischen Verfassung verschwinden, in der es seit 2019 festgeschrieben ist.
Eine wirkliche Neutralität der Ukraine könnte ein erster Schritt zu einer anderen europäischen Sicherheitsarchitektur sein. Derzeit stehen wir am Rand eines dritten Weltkriegs, möglicherweise eines Atomkriegs. Dies abzuwenden, sollte uns Ansporn sein, die absolute Dringlichkeit der vollständigen atomaren Entwaffnung auf allen Seiten und der sofortigen Stilllegung aller Atomkraftwerke sein. Sämtliche Auslandseinsätze müssen gestrichen und die Bundeswehr auf die reine Landesverteidigung zurückgebaut werden. Die NATO gehört aufgelöst!

6. In Deutschland hat die russische Aggression einen Paradigmenwechsel eingeleitet: «Der strukturelle Pazifismus, der die deutsche Nachkriegsgeschichte geprägt hat, ist erledigt», hat ein Oberst der Bundeswehr diesen Wechsel treffend auf den Punkt gebracht. Alle Hüllen fallen jetzt, eine nach der anderen: die Rüstungsexportverbote in Kriegsgebiete, die Beschränkung auf logistische Unterstützung in kriegerischen Auseinandersetzungen, die zumindest optisch zweite Reihe für deutsche Soldaten in militärischen Verbänden, die EU- oder UN-geführt sind, usw. Die 100 Milliarden für die Aufrüstung der Bundeswehr sind Kriegskredite. Bezahlen muss das die arbeitende Bevölkerung – mit weiterem Sozialstaatsabbau und mit lang nicht mehr gekannten Inflationsraten.
Vielleicht schlimmer noch als diese materielle Seite ist die Weichenumstellung, die in den Herzen und Hirnen vor sich geht: Das Russland-Bashing der Massenmedien, die Äußerungen mancher Politiker:innen, die Hemmungslosigkeit, mit der das alte Feindbild des «russischen Bären» wieder aufgewärmt wird, sind erschreckend. Hier wird die Volksseele darauf vorbereitet, den Krieg als Mittel der Auseinandersetzung wieder als selbstverständlich zu akzeptieren und klaglos Opfer für die Drahtzieher zu bringen.
Neben der pazifistischen Grundhaltung in der deutschen Bevölkerung bleibt auch die Energiewende auf der Strecke: Statt russischem Erdgas gibt es jetzt das ökologisch noch belastetere Flüssiggas aus den USA und, wer weiß, auch wieder Atomenergie? Schließlich wird auch über die nukleare Teilhabe Deutschlands künftig nicht mehr nur unter der Decke verhandelt werden.
Bedanken können wir uns bei Putin, der den Scharfmachern in den westlichen Regierungsetagen einen ungeheuren Dienst erwiesen hat.

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