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Amerika 1. April 2022

‹Freedom Convoy› und Ausnahmezustand
von Ingo Schmidt*

An der West- und Ostküste brachen sie auf: mit Sattelschleppern, Pick-ups und SUVs, in langen Kolonnen fuhren sie tausende Kilometer, um gegen die Corona-Maßnahmen der liberalen Minderheitsregierung Justin Trudeaus zu protestieren. In der Hauptstadt Ottawa besetzten sie das Regierungsviertel. In Alberta und Ontario blockierten sie Grenzübergänge in die USA. Von der Polizei erteilte Platzverweise, eingezogene Führerscheine und Versicherungspolicen ignorierten sie.

Nach zwei Wochen wurde erst in Ontario und dann bundesweit der Notstand ausgerufen, Konten eingefroren, die öffentlich auftretenden Anführer verhaftet, quergestellte Fahrzeuge abgeschleppt und die verbliebenen Demonstranten unter Strafandrohung abgedrängt.

Besetzung des Regierungsviertels
Angesichts der vierten Corona-Welle beschloss die Regierung Trudeau am 15.Januar, dass Lkw-Fahrer, die aus den USA kommen und nicht geimpft sind, zwei Wochen in Quarantäne müssen. Faktisch eine Impfpflicht für alle Fahrer, die regelmäßig die Grenze überqueren. Am 22.Januar machten sich Fahrzeugkolonnen aus Prince Rupert an der Westküste auf den Weg nach Ottawa, um gegen diese Maßnahmen zu protestieren.
Am 27.Januar machten sich Gleichgesinnte in Enfield, Nova Scotia, auf den Weg. Zwei Tage später trafen die Teilnehmer des Freedom Convoy aus Ost und West in Ottawa ein. Mit geparkten Lkw blockierten sie die Zufahrtsstraßen zum Regierungsviertel. Bei Minustemperaturen mussten die Motoren rund um die Uhr laufen, um die Fahrerkabinen zu heizen. Der notwendige Sprit wurde in Kanistern herangeschleppt.
Mit einem Hupkonzert von früh am Morgen bis spät am Abend machte der Freedom Convoy auf sich aufmerksam. Die Polizei schätzt, dass um die tausend Fahrzeuge und fünftausend Personen an der Blockade des Regierungsviertels beteiligt waren. Während einzelner Kundgebungen waren es deutlich mehr.
Anwohner, die sich über Lärm und den Gestank der Dieselabgase beschwerten, erhielten Todesdrohungen. Die meisten Läden und Lokale im Regierungsviertel und in den anliegenden Straßenzügen machten dicht, nachdem sie von Gruppen aggressiver und nichtmaskierter «Kunden» aufgesucht wurden.
Vereinzelt gab es auch Gegenproteste bis hin zu einer «Blockade der Blockierer». Da sich die Polizei wenig für die Beschwerden der Anwohner interessierte, gründeten örtliche Gewerkschaftsaktivisten Community Solidarity Ottawa. Schwerpunkt ihrer Mobilisierung waren die sozialen Folgen der Corona-Krise.

Blockierte Grenzübergänge und Ausnahmezustand
Um wirtschaftliche Folgen ging es bei den Blockaden zweier Grenzübergänge in die USA. Da die Quarantänepflicht für ungeimpfte Lkw-Fahrer – oder genauer: alle aus den USA einreisenden Personen – Anlass des Freedom Convoy war, lagen solche Blockaden nah. Vom 29.Januar bis zum 15.Februar war der Grenzübergang Coutts in Alberta dicht, vom 7. bis zum 12.Februar die Ambassador Bridge zwischen Windsor und Detroit. Ein Viertel des gesamten Außenhandels zwischen den USA und Kanada geht über diese Brücke.
Diese Unterbrechung der Lieferketten störte Unternehmen auf beiden Seiten der Grenze und veranlasste schließlich sogar US-Präsident Biden, bei seinem Kollegen Trudeau anzurufen und auf eine Räumung der Brücke zu drängen.
Trudeau gab diese Forderung an Ontarios Ministerpräsidenten Ford weiter, der am 11.Februar den Ausnahmezustand über die Provinz verhängte und die Brücke tags darauf räumen ließ. Die Besetzung des Regierungsviertels ordnete er nicht an. Dies übernahm Trudeau, nachdem er am 14.Februar das ganze Land zum Ausnahmegebiet erklärt hatte. Danach wurden auch die Blockierer des Grenzübergangs Coutts abgeräumt, die Albertas Ministerpräsident Kenney, wie Ford ein Konservativer, weitgehend unbehelligt hatte gewähren lassen. Das Kapitel Freedom Convoy 2022 war zu Ende.
Dass der Konvoi nur eine Woche nach Ankündigung neuer Corona-Regeln starten konnte, lag nicht zuletzt am Konvoi United We Roll, der Kanada 2019 durchquert hatte. Inspiriert von den französischen Gelbwesten demonstrierten sie für Öl- und Gas-Pipelines und gegen CO2 -Steuern. Im Gegensatz zum ideologischen Sammelsurium der Gelbwesten waren die Organisatoren von United We Roll eindeutig positioniert: Gegen Einwanderer, Islam, Juden und Gewerkschaften. Auch die Unabhängigkeit Albertas, vielleicht sogar der Anschluss an die USA, stand zur Debatte.

Organisatoren und Unterstützer
Aus United We Roll ist auch die Gruppe von Organisatoren und Anführern hervorgegangen, die den Freedom Convoy auf den Weg gebracht haben. Die politische Zielsetzung der Organisatoren geriet in die Kritik, als der Freedom Convoy immer mehr Aufmerksamkeit auf sich zog. Als Reaktion darauf wurde die Abschaffung aller Corona-Maßnahmen als Hauptziel genannt.
Über die Firma GoFundMe wurden seit dem 14.Januar, also bereits einen Tag bevor die Quarantänepflicht für ungeimpfte Grenzüberquerer erlassen wurde, bis zum 25.Januar 5 Millionen Dollar an Spenden eingetrieben. Anfang Februar verlangte ein Parlamentsausschuss Auskunft über die Spendenkampagne und die Firma stieg aus der Kampagne aus. Danach wurden über 8 Millionen Dollar über GiveSendGo eingetrieben, eine von fundamentalistischen Christen betriebene Plattform.
Aus Spenderdaten, die der Presse zugespielt wurden, ist bekannt, dass ein erheblicher Teil der Gelder aus den USA stammt, vornehmlich von bessergestellten bis gutbetuchten Konservativen. Weniger ist über die Trucker bekannt, die öffentlich als hart arbeitende Freiheitskämpfer auftraten. Der Branchenverband Canadian Truckers Alliance, der den Freedom Convoy ebenso ablehnte wie die Lkw-Fahrer-Gewerkschaft Teamsters, behauptete, die Mehrheit der Teilnehmer seien keine Fahrer. Überprüfen lässt sich diese Behauptung nicht.
Das Lkw-Gewerbe ist aufgeteilt zwischen kleinen Selbständigen, die ihre Fahrzeuge selbst fahren, und mehr oder minder großen Firmen, die Fahrer gegen Lohn einstellen. Der Konkurrenz- und Zeitdruck ist in der gesamten Branche hoch und geht von Industriekonzernen aus, deren Profitvorgaben sich ohne schnellen und billigen Transport nicht erreichen lassen.
Unübersehbar war, dass die Teilnehmer des Freedom Convoy durchweg weiß waren, während in der Branche rund die Hälfte der Beschäftigten nicht weiß ist. Eine Gruppe indischer Fahrer, die gegen Lohndiebstahl und schlechte Arbeitsbedingungen kämpfen, hat dem Convoy vorgeworfen, von den tatsächlichen Problemen abzulenken.
Dennoch ist die Botschaft, dass sich das arbeitende Kanada von staatlicher Bevormundung befreien müsse, bei vielen angekommen. Laut Umfragen äußerte rund ein Drittel der Bevölkerung Unterstützung oder zumindest Verständnis für die Aktionen des Freedom Convoy. Überrepräsentiert unter den Convoy-Verstehern sind untere Einkommen und formal gering Qualifizierte.
Nach Berichten von Gegen­demonstranten, die auch das Gespräch mit Convoy-Unterstützern gesucht haben, gibt das Bild einer Bande gewalttätiger Rassisten und Sexisten, das in den liberalen Medien gezeichnet wurde, die Wirklichkeit nur teilweise wieder. Solche gab es auch – unter den Organisatoren waren sie wohl in der Mehrheit –, aber es gab auch viele, deren Sorgen und Nöte sonst niemand hören will.

Konservative Halbunterstützung
Die Organisatoren des Freedom Convoy sind nicht die einzigen, die sich unter dem Label der Freiheit von Bevormundung als Fürsprecher hart arbeitender Menschen ohne Vertretung in Medien und Politik aufspielen, aber kein Interesse daran haben, die Probleme dieser Menschen zu lösen. Die Konservativen spielen auf der gleichen Klaviatur. Sie waren aber darüber zerstritten, wie weit sie in der Unterstützung des Freedom Convoy gehen sollten.
Einige, Recht und Ordnung verpflichtet, wollten die gesetzwidrigen Blockaden nicht anerkennen, konnten sich aber nicht dazu durchringen, der Polizei, in deren Reihen es viel Unterstützung für den Konvoi gab, Räumungsbefehle zu geben. Zu diesen Zauderern zählten die Ministerpräsidenten Ford und Kenney und der ehemalige Vorsitzende der Bundespartei O’Toole.
Inmitten des Blockadegerangels schwenkte die Mehrheit der Konservativen auf eine Linie ein, die das von Trudeau repräsentierte Recht als nicht ganz legitim ansehen, weshalb gesetzwidrige Proteste dagegen gerechtfertigt seien.
Nachdem polizeiliche Räumungen der Blockaden an der Boykotthaltung von konservativen Provinzregierungen und Teilen der Polizeiführung gescheitert waren, verhängte Trudeau in seiner Not den bundesweiten Ausnahmezustand. Der radikale Flügel der Konservativen sah sich in seiner «Trudeau-gleich-Diktator»-Haltung bestätigt. Die sozialdemokratische NDP sicherte Trudeau eine Parlamentsmehrheit. Auch in Meinungsumfragen wurde der Schritt mehrheitlich begrüßt.
Trotzdem ist Trudeaus Position erschüttert. Meinungsumfragen ändern sich schnell. Teile der NDP, vor allem ihrer aktiven Unterstützer, schluckten den Ausnahmezustand, warnten aber zugleich, dass damit ein Präzedenzfall gegen Proteste von links geschaffen sei.

*Ingo Schmidt ist Ökonom und leitet das Labour Studies Program der Athabasca University in Kanada.

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