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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 04/2022

Zäher Widerstand gegen Straßenprojekt in Wien
von Paul Stern

Nach mehrmonatigem Stillstand räumte die Polizei am 1.Februar 2022 eine von zwei besetzten Baustellen des Bauvorhabens Stadtstraße (Budgetansatz 460 Millionen Euro). Was euphemistisch Stadtstraße genannt wird, ist eine teils untertunnelte, vierspurige Autobahn. Sie ist 3,3 km lang und führt durch fruchtbares Ackerland.

Die Begründung für das Projekt ist die Anbindung von 60000 entstehenden Eigentumswohnungen an das Straßennetz im 22.Bezirk. Mehrere Expert:innen aus der Stadtentwicklungsplanung haben mittlerweile belegt, dass dieser Zusammenhang ökologisch unsinnig und zerstörerisch ist.
Kernstück ist das angeblich ökologische Bauprojekt «Seestadt Aspern». Träger sind die Erste Bank, die Vienna Insurance Group und der WWFF (Wiener Wirtschafts Förderungs Fond). Die Unternehmen haben zur Absicherung ihrer Investitionen von der Stadt Wien verlangt, die notwendige Infrastruktur bereitzustellen. Auch deshalb sei der Bau der Stadt­autobahn «nicht verhandelbar», so Bürgermeister Ludwig. Ausschlaggebend ist die weitgefasste Vision von Wien als Standortfaktor im globalen Wettbewerb.
Durch Aus- und Neubau von Verkehrsachsen soll die Wiener Region mit transeuropäischen Verkehrsrouten vernetzt werden. Flankiert durch den Bau einer russischen Breitspurbahn soll Wien damit im Kontext der «neuen Seidenstraße» an chinesische Lieferketten angebunden werden. Das wurde 2018 im strategischen Standortabkommen zwischen der Stadt Wien und der Wiener Industriellenvereinigung festgezurrt und von SPÖ, NEOS, ÖVP und FPÖ politisch unterstützt.

Bewegung
Der Räumung war ein Brandanschlag auf einen bewohnten Besetzungsturm und die Androhung von Schaden­ersatzforderungen der Stadt Wien gegen Aktivist:innen, darunter 13jährige, vorausgegangen. Beide Vorkommnisse führten zu einer breiten Empörung in der Öffentlichkeit. Vor und nach der Räumung wurde eine Massenzeitung mit einer Auflage von 100000 in allen Bezirken von Aktivist:innen der Lobau-Bleibt-Bewegung verteilt.
Die Räumung führte keinesfalls zu einer Lähmung der Gegenbewegung. Schon am Abend der Räumung protestierten 2000 Menschen vor der SPÖ-Zentrale. Im Anschluss zogen spontan 1500 Aktivist:innen zum Polizeianhaltezentrum, wo sich die Festgenommenen befanden. Dies war möglich durch das Zusammenspiel aller Kräfte des Widerstands gegen die Stadtautobahn.
Der Kern der Besetzer:innen wird vom Jugendrat, den fridaysforfuture, XR und system change, not climate change gestellt. Sehr aktiv sind auch Genoss:innen von Links, die mit der AG Lobau organisatorisch und publizistisch versuchen, die Besetzungen in den Bezirken zu popularisieren. Das tun sie auf der Straße und in den Bezirksvertretungen, wo Links bereits einige Anträge erfolgreich lancieren konnte.
Neben der Unterstützung von größeren Organisationen wie Global 2000 und Greenpeace ist es politisch hilfreich, dass sich der Jugendbereich der SPÖ wie die Junge Generation und die Sozialistische Jugend dem Protest angeschlossen haben. Dieser Riss innerhalb der Sozialdemokratie ist ein Hoffnungsschimmer, um das Projekt zu Fall zu bringen. Der nächste Parteitag der Wiener SPÖ am 13.Mai 2022 wird zeigen, wie groß der innerparteiliche Unmut ist. Es könnte für den sonst sehr populären Bürgermeister Ludwig ungemütlich werden.

Perspektive
Die weitere inhaltliche Vertiefung der Gegenaktionen hat bereits begonnen, z.B. durch eine online-Veranstaltung von Links. Die unterentwickelte Auseinandersetzung in und mit den Gewerkschaften wird forciert. Mit Großaktionen um den SPÖ-Parteitag und dem Verteilen einer weiteren Massenzeitung mit einer geplanten Auflage von mindestens 250000 ab dem 27.April wird sich der ökologische Widerstand kraftvoll zurückmelden. Das nächste Klimacamp vom 22. bis 27.Mai 2022 auf dem Gelände des legalen Basislagers wird Perspektiven des weiteren Vorgehens erörtern.
Die Bewegung des seit Jahrzehnten größten ökologischen Protestes öffnet sich zunehmend sozialen, raumplanerischen, kulturellen und antimilitaristischen Aspekten sowie der Frage der Konversion. Die bundesweite und internationale Kommunikation mit Initiativen gegen Straßenbauprojekte wird ausgebaut. Konsens ist, dass die Stadtautobahn trotz der Räumung einer Baustelle verhindert werden kann.
Die SPÖ kann einfach nicht hinreichend erklären, weshalb in der von ihr erklärten «Klima-Musterstadt» ­eine innerstädtische Autobahn notwendig ist. Außerdem ist das Projekt unvereinbar mit dem Vorhaben, den Wiener Individualverkehr bis 2030 um 25 Prozent zu reduzieren. Der Wiener Klimarat verlangte schon 2020 den Ausstieg aus den Projekten Stadtstraße und Lobau-Autobahn. Auch in Wien wird das Bewusstsein wachsen, dass angesichts der jüngsten Weltklimaratberichte eine ökologische Trendwende notwendiger ist denn je.

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