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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 04/2022

Gewerkschaften, Räte und Imperialismus
von Nora Schmid

Die Demonstrationen im Sudan halten an. Auch nach dem Sturz des ehemaligen Machthabers Omar al-Bashir kämpfen die Menschen gegen die Militärregierung und für soziale Gerechtigkeit.

Ihre Ablehnung gegenüber dem Militär ist deutlich: «Keine Verhandlungen, keine Partnerschaft, keine Legitimität», doch von internationaler Seite wird die Zusammenarbeit mit dem Militär gestützt und der Putsch legitimiert.

Hintergrund der Proteste
Im Dezember 2018 brachen Proteste gegen Omar al-Bashir aus. Die Demonstrationen starteten zunächst in abgelegenen, kleineren Städten. Bekannt wurde der Aufstand in Atbara, als Schüler:innen spontan eine Demonstration organisierten. Der Brotpreis stieg über Nacht so hoch, dass sie ihr Mittagessen nicht mehr bezahlen konnten. Sie zogen durch die Stadt, zum Hauptsitz der amtierenden Nationalen Kongresspartei, und brannten das Gebäude nieder. Die Bilder verbreiteten sich schnell; wenige Tage später erreichten die Proteste die Hauptstadt Khartum.
Jahrzehntelange Sparmaßnahmen, Privatisierungen und gravierende Ungleichheit zwischen den urbanen und den ländlichen Regionen des Landes hatten die Wut der Bevölkerung geschürt. Als sich der Südsudan 2011 abspaltete, verlor die Regierung in Khartum die Kontrolle über die Ölreserven im Süden. Die wirtschaftliche Situation verschlechterte sich rapide. Staatseinnahmen brachen weg und innerhalb eines Jahres verlor das sudanesische Pfund die Hälfte seines Wertes.
Die Regierung reagierte mit weiteren Einsparungen und strich Subventionen für Grundgüter. Preise für Nahrungsmittel und Benzin gingen in die Höhe. So kam es in den letzten zehn Jahren immer wieder zu Protesten und Streiks gegen die steigenden Preise, Landraub und die Regierung.

Bashirs Sturz
Angesichts der Massenproteste setzten Generäle Omar al-Bashir im April 2019, nach fast 30 Jahren Herrschaft, ab, und ein militärischer Übergangsrat übernahm die Macht. Die Militärs hofften, so ihre Macht halten zu können – aber es gelang ihnen nicht, die Massen von der Straße zu vertreiben. Die Proteste wuchsen an, die Menschen beharrten auf einer zivilen Regierung. Ende Mai setzte ein Generalstreik die Übergangsregierung massiv unter Druck.
Als Antwort mobilisierte das Militär am 3.Juni bewaffnete Kräfte und ließ die Sitzblockade vor den Hauptquartieren der Armee in Khartum blutig räumen. Hunderte wurden ermordet, verletzt, vergewaltigt. Einer der Hauptbeteiligten an dem Massaker war General Mohammed Dagalo, bekannt als Hemedti, Mitglied der Übergangsregierung.
Hemedti ist einer der reichsten Männer Sudans, seine Einnahmequellen reichen von einem Netzwerk an Unternehmen über Goldminen zu Drogenschmuggel und Menschenhandel. Er ist Kommandeur der Rapid Support Forces, die unter seinem Befehl tausende Menschen in der Region Darfur ermordeten.
Doch das Massaker konnte die Proteste nicht zerschlagen. Wenige Tage später riefen Gewerkschaften einen Generalstreik aus. Ende des Monats gab der Übergangsrat dem Druck nach, und es wurde eine Übergangsregierung aus zivilen und militärischen Akteuren gebildet. Hemedti erhielt einen der elf Sitze im neu gebildeten «Souveränen Rat».

Gewerkschaften als zentrale Akteure
Die zivile Seite der Übergangsregierung wurde von den «Kräften der Freiheit und des Wandels» gestellt, einem Zusammenschluss verschiedener oppositioneller Kräfte. Diesem Verband gehören auch Gewerkschaften an, einer der Hauptakteure in der Revolution.
Zwar wurden Gewerkschaften unter Bashir massiv geschwächt, die sudanesische Arbeiterbewegung konnte aber nie gänzlich zum Schweigen gebracht werden. Es gab zahlreiche selbständige Streiks von Lehrer:innen, Pflegepersonal sowie Arbei­ter:in­nen in der öffentlichen Wasser- und Stromversorgung. Bereits 2016 gründete sich der Sudanesische Berufsverband, ein gewerkschaftlicher Zusammenschluss von Berufsgruppen wie Journalist:innen, Lehrer:innen, Pharmazeut:innen und Ärztinnen und Ärzten.
Der Berufsverband nahm mit der beginnenden Revolution schnell eine zentrale Rolle ein, organsierte Proteste und rief zu Streiks auf. Doch beschränkten sich Aktivitäten nicht nur auf Fachkräfte. Noch im Januar streikten Hafenarbeiter in Port Said, um gegen die Privatisierung des südlichen Hafens zu protestieren. Im Frühling wurde in landwirtschaftlichen Betrieben gestreikt und Arbeiter:innen in Getreidemühlen folgten dem Aufruf zum ersten Anlauf eines Generalstreiks im März 2019.

Das Militär fordert Macht zurück
Die unbehagliche Allianz des Souveränen Rats zwischen zivilen Oppositionskräften, alten Militärgenerälen und Milizenführern ahndete weder Gewalttaten der Regierung noch ging sie die wirtschaftlichen Missstände, welche die Revolution anprangerte, an. Mit Unterstützung des Internationalen Währungsfonds, der USA, Großbritanniens und der EU liberalisierte der Rat die Wirtschaft weiter. Grundgüter wie Brot und Benzin waren Mangelware, die Inflation stieg weiter.
Unter dem Vorwand dieser Krise putschte das Militär im Oktober 2021 und stellte den zivilen Premierminister Abdalla Hamdok unter Hausarrest. Die Bevölkerung widersetzte sich: Tausende gingen auf die Straße, Bankangestellte und Lehrer:innen streikten, der Flughafen wurde lahmgelegt. Wenige Wochen später konnte Hamdok seinen Weg ins Amt zurückverhandeln, indem er einem Großteil der Forderungen des Militärs zustimmte und in einen Deal mit eben jenen Generälen einwilligte, die ihn kurz zuvor weggeputscht hatten.
Regionale wie westliche Mächte unterstützen diese neue Vereinbarung, die breite Bevölkerung lehnte sie ab und forderte eine zivile Regierung sowie ein Ende der Zusammenarbeit mit dem Militär. Die Proteste flauten nicht ab. Hamdok gab dem Druck schließlich nach und trat zurück.
Die institutionalisierte Opposition war geschwächt. Der Oppositionsverband «Kräfte der Freiheit und des Wandels» sowie der «Sudanesische Berufsverband» hatten sich auf eine Zusammenarbeit mit dem Militär eingelassen, konnte sich aber nicht gegen dieses durchsetzen. Doch die Menschen auf der Straße gaben nicht nach, und eine neue politische Kraft nahm die entscheidende Rolle in den Protesten nach dem Putsch ein: die Widerstandskomitees.

Widerstand aus den Stadtteilen
Die wie Räte organisierten Widerstandkomitees bezogen eine klare oppositionelle Haltung gegen die Putschisten und Premier Hamdok. Ihre Entstehung geht auf die 90er Jahre zurück; seitdem spielen sie eine entscheidende Rolle bei Protesten und der Revolution. Über 5000 Komitees existieren laut Studie des Carter Center; sie beschränken sich keineswegs auf die großen Städte, sondern reichen bis in die ländlichen Gebiete.
Die Komitees organisieren sich in Stadtteilen und organisieren deren Schutz, verteilen Grundnahrungsmittel und während der Pandemie Masken und Desinfektionsmittel. Teilweise haben sie sich von einer organisierenden Kraft der Proteste in eine demokratische Massenbewegung verwandelt und sind Teil einer gewählten Generalversammlung mit lokalen Delegierten aus den Vierteln. Seit dem Putsch sind die Komitees die Haupttriebkraft der Revolution.

Internationale Unterstützung der Konterrevolution
Während die Menschen auf der Straße für eine zivile Regierung und soziale Gerechtigkeit kämpfen, verfolgen westliche Staaten und Finanzinstitutionen einen Kompromiss mit dem Militär sowie weitere wirtschaftliche Liberalisierung. Der Sudan ist für die EU und Deutschland als Transitstaat für Migrant:innen aus Somalia, Eritrea und Äthiopien von großer Bedeutung. Schon der Khartum-Prozess 2013/14 zwischen Afrikanischer Union, EU und Sudan hatte das Ziel, die Grenzen des Sudans für den Transit zu schließen.
Gelder, die dafür an den Sudan flossen, finanzierten auch die Janjaweed, aus denen die Rapid Support Forces hervorgingen. Diese wirkten am Genozid in Darfur mit, töteten, verletzten und vergewaltigten Tausende. Heute unterstützen sie die Konterrevolution und verüben Massaker an Demonstrant:innen.
Trotzdem setzen sich westliche Akteure und Staaten mit ehemaligen Milizenführern und Militärs an einen Tisch und versprechen ihnen eine zentrale Rolle in der Zukunft des Landes. Einer von ihnen ist Volker Perthes. Der ehemalige Direktor der Stiftung «Wissenschaft und Politik», und damit Berater der deutschen Regierung in Sachen Außenpolitik, wurde im Januar zum Sonderbeauftragten der UNO für den Sudan ernannt. Perthes verhandelte nach dem Militärputsch 2021 zwischen alten Militärs, Hemedti und dem in Hausarrest befindlichen Premier Hamdok. Er setzte sich für den Erhalt der Militärregierung und eine Versöhnung zwischen dieser und der Bevölkerung ein.
Sudanesische Aktivist:innen werfen Perthes vor, den Putsch zu legitimieren. Ihre Ablehnung einer Zusammenarbeit mit dem Militär ist deutlich, so gab eines der Widerstandkomitees in Karara bekannt: «Wir werden unseren Schweiß und unser reines Blut nicht umsonst verkaufen. Die Straßen haben gesprochen. Keine Verhandlungen, keine Partnerschaft und keine Legitimität.»
Aktivist:innen und Widerstandkomitees rufen international auf, Druck auf Regierungen auszuüben, sich mit den Menschen auf der Straße zu solidarisieren, statt das Militär und die Konterrevolution zu unterstützen.

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