Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 05/2022

…und bleibt ein Katalysator für den globalen Systemwandel
von Leo Gabriel*

Vor 20 Jahren wurde das Weltsozialforum (WSF) in Porto Alegre, Brasilien, als Gegenstück zum Weltwirtschaftsforum in Davos gegründet.

Die Idee, dem sog. «Gipfel der Reichen» einen Treffpunkt für Sozial-, Umwelt-, Menschenrechts- und Friedensbewegungen entgegenzusetzen, entstand in einem breiten Bündnis, das sich im Zuge der sozialen Kämpfe in Seattle gegen die Welthandelsorganisation (WTO), in Prag gegen die Weltbank und wenig später gegen den Internationalen Währungsfonds (IWF) – den wichtigsten Bastionen der neoliberalen Globalisierung – entwickelte.

«Obwohl wir nicht in allem übereinstimmen können, gibt es genug Gemeinsamkeiten in unseren Kämpfen, um eine große globale Bewegung zu bilden», hatte João Pedro Stédile, führender Kopf der Bewegung der Landlosen (MST – Movimento Sem Terra) in Brasilien, Vorläuferin von Via Campesina, auf einem großen internationalen Symposium 1998 auf der Burg Schlaining in Südösterreich gesagt.
Ziel des Weltsozialforums, das bereits 13mal in einer der großen Städte des globalen Südens stattgefunden hat (Mumbai, Nairobi, Caracas, Dakar, Belem, Tunis usw.), war von Anfang an, ein Diskussionsforum zu schaffen, in dem Alternativen zum herrschenden Neoliberalismus entwickelt werden, um zu zeigen, dass «eine andere Welt möglich ist». Zehntausende von Aktivist:innen aus allen Kontinenten beteiligten sich nicht nur an der Erarbeitung von Konzepten wie Solidarische Ökonomie, partizipative Demokratie, friedlicher Widerstand, Selbstbestimmungsrecht der Völker usw. – unter diesem Vorzeichen fand am 15.Februar 2003 auch die laut New York Times größte Demonstration in der Geschichte der Menschheit gegen den Krieg im Irak statt.
Trotz dieser Bemühungen hatte das WSF jedoch nur indirekten Einfluss auf die politischen Entwicklungen. Im Gegenteil: Die vielfältigen wirtschaftlichen, soziopolitischen, ökologischen und heute auch gesundheits- und friedenspolitischen Krisen breiten sich rascher aus denn je und haben die Mehrzahl der Weltbevölkerung zu Geiseln des neoliberalen Systems gemacht.

Hat der Neoliberalismus während der Pandemie Selbstmord begangen?
Die Pandemie, die von einigen als Ursache, von den meisten jedoch als Katalysator für diese multidimensionalen Krisen betrachtet wurde, hat selbst in konservativen Kreisen des Großkapitals die Ansicht ausgelöst, dass der «Neoliberalismus tot ist». Wenn zum Beispiel Klaus Schwab, der Gründer des Weltwirtschaftsforums, von der Notwendigkeit einer Neuprogrammierung («the great reset») der Weltwirtschaft spricht, so werten Autoren wie Noam Chomsky und Richard Mason dies als Anerkennung des Scheiterns des Neoliberalismus.
Vor dem Hintergrund dieser Situation hat das Weltsozialforum innerhalb und außerhalb Mexikos eine große Debatte über die Rolle geführt, die das WSF in dieser kritischen Zeit der Menschheitsgeschichte spielen könnte. Viele Aktive fragen sich seit einiger Zeit, ob sich der organisatorische Aufwand, so viele Menschen zusammenzubringen, wirklich lohnt, nur um Ideen und Erfahrungen auszutauschen, wo doch heute eigentlich eine globale Organisation gebraucht würde, die in der Lage wäre, die öffentliche Politik auf globaler, nationaler und lokaler Ebene zu beeinflussen.
Gerade angesichts des Versagens der internationalen Akteure, einschließlich der UNO, im Nahen Osten und in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion Frieden zu schaffen, sagen die «Erneuerer» im Weltsozialforum, dass das WSF einen sozialpolitischen Akteur braucht, der in der Lage ist, groß angelegte Aktionen durchzuführen.

Freiraum versus Aktionsraum
So war auf dem ersten Online-WSF, das vom 23. bis 18.Januar 2021 stattfand, nicht nur ein neues Gesicht, sondern auch ein neuer Geist zu spüren. Dieses virtuelle Forum spiegelte deutlich wider, dass das WSF nicht nur ein Ereignis, sondern ein Prozess ist, wie es die «Erneuerer» nach jahrelangen Diskussionen im Internationalen Rat vorgeschlagen hatten. Auf der anderen Seite standen die Vertreter bekannter europäischer und brasilianischer NGOs, die sich auf die sog. «Charta von Porto Alegre» beriefen um zu verhindern, dass das Weltsozialforum als politischer Akteur sui generis auftritt.
Gegenüber diesen «Horizontalisten» gewinnen jedoch die Stimmen, die das WSF nicht mehr als «offenen Raum», sondern als «Aktionsraum» verstanden wissen wollen, angesichts der sich verschärfenden Krisen immer mehr an Einfluss.
Einer relativ kleinen Gruppe renommierter Denker wie dem portugiesischen Soziologen Boaventura de Souza Santos, der belgischen Sozialwissenschaftlerin Francine Mestrum vom Tricontinental Centre und dem Gründer der Dritte-Welt-Agentur Inter-Press-Service, Roberto Savio, ist es gelungen, viele der weltweit größten sozialen Bewegungen wie Via Campesina, Friends of the Earth, das Internationale Friedensbüro usw., die sich in den letzten zehn Jahren vom WSF zurückgezogen haben, zurückzugewinnen.

Mexiko
Am wichtigsten wird in diesem weltweiten Diskussionsprozess jedoch die Position der sozialen Bewegungen in Mexiko sein, wo vom 1. bis 6.Mai 2022 ein «hybrides» (physisches und virtuelles) Weltsozialforum stattfinden soll – nach einer ganzen Reihe von anstehenden Wahlen in Lateinamerika, wo es, dem Beispiel Boliviens folgend, sogar zu einer neuen Welle der linken Mitte kommen könnte, die in Chile, Honduras, Peru und Mexiko bereits stattgefunden hat. In diesem Jahr kommen noch die Wahlen in Kolumbien und Brasilien hinzu, die Anlass zur Hoffnung geben.
Eines ist in den zahlreichen Webinaren dieses WSF sehr deutlich geworden: Die Forderung nach einem Systemwechsel, d.h. einer grundlegenden Erneuerung des politischen und wirtschaftlichen Systems, unter dem die große Mehrheit der Bevölkerung in den Ländern des globalen Südens leidet, wird inzwischen auch von den Mittelschichten in den Ländern des globalen Südens geteilt.
Der Traum von einem besseren Leben, den der American Way of Life bringen sollte, ist definitiv vorbei. Dies spiegelte sich auf dem WSF2021 auch in einer gemeinsamen «Erklärung der Sozial-, Friedens- und Umweltbewegungen» wider, die trotz des Versuchs der Konservativen im Internationalen Rat, eine solche Erklärung zu verhindern, in den letzten beiden Tagen des WSF 2021 von einer großen Zahl von Organisationen verabschiedet wurde.

*Der Autor ist Journalist, Dokumentarfilmer, Anthropologe und Mitglied des Internationalen Rats des Weltsozialforums
www.wsf2022.org
www.foranewwsf.org

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