Der Schweizer Offizier Jacques Baud rekonstruiert, wie es zum Krieg kam
dokumentiert
Es gibt in bürgerlichen Kreisen durchaus qualifizierte Stimmen, die auf die Mitverantwortung der NATO-Staaten für den Krieg in der Ukraine hinweisen. Sie werden schnell in der Mainstream-Presse, die mittlerweile fanatisch auf Kriegskurs ist, niedergeschrien.
Einrichtungen wie die Stiftungen in Mecklenburg-Vorpommern, die den Gashandel organisierten, werden zugemacht, von Kulturschaffenden die Unterzeichnung von Revers verlangt, eine ganze Infrastruktur der Zusammenarbeit, die im Zuge der Entspannungspolitik aufgebaut wurde, zerstört. Deutschland wird erneut zum Frontstaat, diesmal zwischen den Wirtschaftsblöcken gemacht. Dafür ist kein Russenbashing zu wohlfeil, die Enthumanisierung des Gegners nimmt auch bei uns dramatische Züge an.
Einer derer, die versuchen, den Gang der Ereignisse, die zum Ausbruch des Krieges geführt haben, zu rekonstruieren ist Jacques Baud. Baud ist Schweizer, ehemaliger Oberst des Generalstabs, ehemaliges Mitglied des strategischen Nachrichtendienstes der Schweiz und Spezialist für die osteuropäischen Länder. Innerhalb der NATO verfolgte er die Ukraine-Krise von 2014 an und beteiligte sich anschließend an Hilfsprogrammen für die Ukraine.
Der nachstehende Text ist ein Auszug aus einem längeren Artikel, der auf der Webseite https://krass-und-konkret.de/ veröffentlicht wurde. Wir sind nicht in der Lage, die Exaktheit der Fakten nachzuprüfen, die dort aufgeführt werden. Wir halten seine Schilderung aber für in sich schlüssig. Wir machen uns auch nicht jedes seiner Urteile zu eigen. Wenn er aber schreibt: «In Wirklichkeit versuchen wir nicht, der Ukraine zu helfen, sondern Russland zu bekämpfen», so entspricht dies durchaus auch unserem Eindruck. Der Text mag daher als ein Stück notweniger Gegenaufklärung gelesen werden.
d.Red.
Wo liegen die Wurzeln des Konflikts?
Die von den beiden selbsternannten Republiken Donezk und Lugansk im Mai 2014 durchgeführten Referenden waren keine Referenden über die «Unabhängigkeit», sondern über «Selbstbestimmung» oder «Autonomie». Sie wollten sich nicht von der Ukraine abspalten, sondern ein Autonomiestatut, das ihnen den Gebrauch der russischen Sprache als Amtssprache garantierte. Dem vorausgegangen war am 23.Februar 2014 die Abschaffung des Kiwalow-Kolsnitschenko-Gesetzes von 2012, das Russisch zur Amtssprache machte – es war der erste gesetzgeberische Akt der neuen Regierung, nachdem Präsident Janukowitsch gestürzt worden war.
Die Entscheidung löste einen Sturm in der russischsprachigen Bevölkerung aus. Dies führte ab Februar 2014 zu heftigen Repressionen gegen die russischsprachigen Regionen (Odessa, Dnepropetrowsk, Charkow, Lugansk und Donezk), zu einer Militarisierung der Situation und einigen Massakern (vor allem in Odessa und Mariupol).
2014 war ich bei der NATO für den Kampf gegen die Verbreitung von Kleinwaffen zuständig, und wir versuchten, russische Waffenlieferungen an die Rebellen aufzuspüren, um festzustellen, ob Moskau daran beteiligt war. Die Informationen, die wir erhielten, stammten praktisch alle von den polnischen Geheimdiensten und stimmten nicht mit den Informationen der OSZE überein: Wir konnten keine Lieferung von Waffen und Material des russischen Militärs feststellen. Die Rebellen waren dank der Überläufer russischsprachiger ukrainischer Einheiten bewaffnet. Der Krieg, den der ukrainische Generalstab gegen die Autonomisten führt, scheiterte an deren mobiler Taktik. Im Zuge dieses Scheiterns sind ganze Panzer-, Artillerie- oder Flugabwehrbataillone zu den Autonomisten übergelaufen. Das war es, was die Ukrainer dazu gebracht hat, sich zu den Minsker Vereinbarungen zu bekennen.
Die Abkommen von Minsk 1 (September 2014) und Minsk 2 (Februar 2015) sahen weder die Abspaltung noch die Unabhängigkeit der Republiken, sondern ihre Autonomie im Rahmen der Ukraine vor. Ihr Status sollte vollständig zwischen Kiew und den Vertretern der Republiken ausgehandelt werden, um eine interne Lösung in der Ukraine zu finden. Aus diesem Grund hat Russland sich seit 2014 geweigert, an den Verhandlungen teilzunehmen, da es sich um eine interne Angelegenheit der Ukraine handele.
Auf der anderen Seite hat der Westen – allen voran Frankreich – systematisch versucht, die Minsker Vereinbarungen durch das «Normandie-Format» zu ersetzen, bei dem sich Russen und Ukrainer von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden. Erinnern wir uns jedoch daran, dass es vor dem 23. und 24.Februar 2022 nie russische Truppen im Donbass gab. OSZE-Beobachter haben nie auch nur die geringste Spur von russischen Einheiten im Donbass beobachtet. Auch die von der Washington Post am 3.Dezember 2021 veröffentlichte Karte der US-Geheimdienste zeigt keine russischen Truppen im Donbass.
Kurz nach der Unterzeichnung der Minsker Vereinbarungen startete der ukrainische Präsident Petro Poroschenko eine groß angelegte Anti-Terror-Operation (ATO) gegen den Donbass. Von NATO-Offizieren schlecht beraten, erlitten die Ukrainer eine vernichtende Niederlage bei Debalzewo, die sie zwang, sich auf die Minsk-2-Abkommen einzulassen.
Die Rolle der Milizen
Die ukrainische Armee befand sich damals in einem beklagenswerten Zustand. Sie war durch die Korruption ihrer Kader unterminiert und genoß nicht mehr die Unterstützung der Bevölkerung. Nach einem Bericht des britischen Innenministeriums erschienen bei der Einberufung von Reservisten im März/April 2014 70 Prozent nicht zur ersten Vorladung, im Oktober/November 2017 erschienen bei der Rückrufaktion «Herbst 2017» 70 Prozent der Einberufenen nicht. Junge Ukrainer weigerten sich, im Donbass zu kämpfen und zogen die Auswanderung vor.
Das ukrainische Verteidigungsministerium wandte sich daraufhin an die NATO, um seine Streitkräfte attraktiver zu machen. Da ich bereits im Rahmen der Vereinten Nationen an ähnlichen Projekten gearbeitet hatte, wurde ich von der NATO gebeten, an einem Programm teilzunehmen, das das Image der ukrainischen Streitkräfte wiederherstellen sollte.
Um den Mangel an Soldaten auszugleichen, griff die ukrainische Regierung auf paramilitärische Milizen zurück. Sie bestehen im wesentlichen aus ausländischen Söldnern, mehr als 19 Nationalitäten, oft Rechtsextremisten. Im Jahr 2020 machten sie rund 40 Prozent der ukrainischen Streitkräfte aus und umfassten laut Reuters etwa 102000 Mann. Bewaffnet, finanziert und ausgebildet werden sie von den USA, Großbritannien, Kanada und Frankreich. [Die Initiative trägt den Namen Centuria-Projekt und wurde 2018 aus der Taufe gehoben.] Westliche Länder haben also eindeutig ukrainische rechtsextreme Milizen geschaffen und unterstützt. Im Oktober 2021 schlug die Jerusalem Post Alarm und prangerte das Centuria-Projekt an.
Diese Milizen sind aus den rechtsextremen Gruppen hervorgegangen, die 2014 die Euromaidan-Revolution anführten. Ob sie insgesamt aus Nazis bezeichnet werden können, ist umstritten. Fakt ist aber: Sie sind gewalttätig, verbreiten eine widerliche Ideologie und sind virulent antisemitisch. Seit 2014 sind sie mit westlicher Unterstützung im Donbass aktiv. Die bekannteste von ihnen ist das Asow-Regiment, dessen Emblem an das der 2.SS-Panzerdivision «Das Reich» erinnert, die in der Ukraine regelrecht verehrt wird, weil sie 1943 Charkiw von den Sowjets befreit hat, bevor sie 1944 in Frankreich das Massaker von Oradour-sur-Glane verübte.
Diese paramilitärischen Kräfte wurden in die Nationalgarde integriert, was aber keineswegs mit ihrer «Entnazifizierung» einherging.
Im Jahr 2022 sind die ukrainischen Streitkräfte, die gegen die russische Offensive kämpfen, sehr schematisch wie folgt strukturiert:
– die Armee ist dem Verteidigungsministerium unterstellt. Sie ist in drei Armeekorps gegliedert und besteht aus Manövrierverbänden (Panzer, schwere Artillerie, Raketen usw.);
– die Nationalgarde untersteht dem Innenministerium und ist in fünf territoriale Kommandos gegliedert;
Die Nationalgarde ist also eine territoriale Verteidigungstruppe, die nicht Teil der ukrainischen Armee ist. Sie umfasst paramilitärische Milizen, die «Freiwilligenbataillone» genannt werden (auch bekannt als «Vergeltungsbataillone») und aus Infanteristen bestehen. Sie sind vor allem für den Kampf in den Städten ausgebildet und sichern heute die Verteidigung von Städten wie Charkiw, Mariupol, Odessa, Kiew usw.
Diejenigen, die die Rechte der Menschen in der Ukraine verteidigen, haben die Aktionen dieser Gruppen schon lange verurteilt, aber unsere Regierungen sind ihnen nicht gefolgt. Denn in Wirklichkeit versuchen wir nicht, der Ukraine zu helfen, sondern Russland zu bekämpfen.
Der Ausbruch des Krieges
Seit November 2021 drohten die Amerikaner ständig mit einer russischen Invasion in der Ukraine. Die Ukrainer schienen damit jedoch nicht einverstanden zu sein.
Am 24.März 2021 hatte Wolodymyr Selenskyj einen Erlass zur Rückeroberung der Krim erlassen und begann, seine Streitkräfte in den Süden des Landes zu verlegen. Gleichzeitig fanden mehrere NATO-Übungen zwischen dem Schwarzen Meer und der Ostsee statt, begleitet von einer deutlichen Zunahme der Aufklärungsflüge entlang der russischen Grenze. Russland führte daraufhin einige Übungen durch, um die Einsatzbereitschaft seiner Truppen zu testen und zu zeigen, dass es die Entwicklung der Lage verfolgt.
Die Lage beruhigte sich Oktober/November mit dem Ende der [russischen] Sapad-21-Übungen, deren Truppenbewegungen als Verstärkung für eine Offensive gegen die Ukraine interpretiert wurden. Doch selbst die ukrainischen Behörden wiesen den Gedanken an russische Kriegsvorbereitungen zurück, und der ukrainische Verteidigungsminister Oleksij Resnikow erklärte, dass sich die Lage an der ukrainischen Grenze seit dem Frühjahr nicht verändert habe.
Im Februar 2022 überstürzten sich die Ereignisse. Am 7.Februar bekräftigte Emmanuel Macron bei seinem Besuch in Moskau gegenüber Wladimir Putin sein Festhalten an den Minsker Vereinbarungen, eine Verpflichtung, die er nach seinem Gespräch mit Wolodymyr Selenskyj am nächsten Tag wiederholte. Doch am 11.Februar endete in Berlin nach neun Stunden Arbeit das Treffen der politischen Berater der Führer des «Normandie-Formats» ohne konkretes Ergebnis: Die Ukrainer weigerten sich immer noch und immer wieder, die Minsker Vereinbarungen anzuwenden, offenbar auf Druck der Vereinigten Staaten. Wladimir Putin stellte daraufhin fest, dass Macron ihm gegenüber leere Versprechungen gemacht habe und dass der Westen – wie schon seit acht Jahren – nicht bereit sei, die Vereinbarungen durchzusetzen.
Das russische Parlament war alarmiert und forderte Wladimir Putin am 15.Februar auf, die Unabhängigkeit der Republiken anzuerkennen, was dieser ablehnte.
Am 17.Februar kündigte US-Präsident Joe Biden an, dass Russland die Ukraine in den nächsten Tagen angreifen werde. Woher wusste er das? Tatsache ist, dass seit dem 16.Februar der Artilleriebeschuss der Bevölkerung im Donbass dramatisch zugenommen hat, wie die täglichen Berichte der OSZE-Beobachter zeigen. Natürlich reagierten weder die Medien, noch die Europäische Union, noch die NATO, noch irgendeine westliche Regierung, niemand ist eingeschritten. Es scheint, dass die EU und einige Länder das Massaker an den Menschen im Donbass absichtlich beschönigt haben, weil sie wussten, dass es eine russische Intervention provozieren würde.
Seit dem 16.Februar wusste Joe Biden, dass die Ukrainer damit begonnen hatten, die Zivilbevölkerung im Donbass zu beschießen, was Wladimir Putin vor eine schwierige Wahl stellte: Entweder dem Donbass militärisch zu helfen und ein internationales Problem zu schaffen, oder untätig zuzusehen, wie russischsprachige Menschen aus dem Donbass überrollt werden.
Wenn er sich für ein Eingreifen entschied, konnte sich Wladimir Putin auf die internationale Verpflichtung der «Schutzverantwortung» (R2P) berufen. Aber er wusste, dass seine Intervention eine Flut von Sanktionen auslösen würde – unabhängig davon, ob sie sich auf den Donbass beschränken oder ob darüber hinaus gehen würde.
Das erklärte er in seiner Rede vom 21.Februar. An diesem Tag kam er dem Ersuchen der Duma nach und erkannte die Unabhängigkeit der beiden Donbass-Republiken an, mit denen er Freundschafts- und Beistandsverträge unterzeichnete. Am 23.Februar baten die beiden Republiken Russland um militärische Hilfe. Am 24.Februar berief sich Wladimir Putin auf Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen, der gegenseitige Militärhilfe im Rahmen eines Verteidigungsbündnisses vorsieht.
Der Krieg hat jedoch schon am 16.Februar begonnen. Die ukrainische Armee bereitete sich 2021 auf einen Angriff auf den Donbass vor, wie bestimmte russische und europäische Geheimdienste wussten.
Schlussfolgerungen
Unsere Medien propagieren ein romantisches Bild des Volkswiderstands. Dieses Bild hat die EU dazu veranlasst, die Verteilung von Waffen an die Zivilbevölkerung zu finanzieren. Das ist ein krimineller Akt. In meiner Funktion als Chef der Doktrin für friedenserhaltende Operationen bei der UNO habe ich mich mit der Frage des Schutzes der Zivilbevölkerung beschäftigt. Dabei haben wir festgestellt, dass Gewalt gegen Zivilisten in ganz bestimmten Kontexten stattfindet. Vor allem dann, wenn Waffen im Überfluss vorhanden sind und es keine Kommandostrukturen gibt.
Die dramatischen Entwicklungen, die wir heute erleben, haben Ursachen, die wir kannten, aber nicht sehen wollten:
– auf strategischer Ebene die Ausweitung der NATO (auf die wir hier nicht eingegangen sind);
– auf politischer Ebene die Weigerung des Westens, die Minsker Vereinbarungen umzusetzen;
– und auf operativer Ebene seit Jahren die kontinuierlichen und wiederholten Angriffe auf die Zivilbevölkerung des Donbass und die dramatische Zunahme Ende Februar 2022.
Natürlich können wir den russischen Angriff bedauern und verurteilen. Aber wir (die USA, Frankreich und die EU an der Spitze) haben die Bedingungen für den Ausbruch eines Konflikts geschaffen. Wir zeigen Mitgefühl für das ukrainische Volk und die zwei Millionen Flüchtlinge. Das ist gut so. Hätten wir aber auch nur ein Minimum an Mitgefühl für die gleiche Anzahl von Flüchtlingen aus der ukrainischen Bevölkerung des Donbass gehabt, die von ihrer eigenen Regierung massakriert wurden und sich seit acht Jahren in Russland ansammeln, wäre das alles wahrscheinlich nicht passiert.