Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 05/2022

Warum sich Israels Premierminister als Friedensstifter aufspielen kann
von Moshé Machover

Einige Fehler, wie z.B. Freudsche Ausrutscher, sind lehrreich und regen zum Nachdenken an. Am 24.Februar, dem Tag, an dem Russland seine großangelegte, barbarische Invasion der Ukraine begann, entdeckte USA Today, dass ein in den sozialen Medien weit verbreitetes Foto, das angeblich eine feurige Explosion und Rauch hinter zwei Hochhäusern in der Nähe von Charkiw zeigte, nicht ganz echt war.

Das Foto war echt, aber es wurde im Gazastreifen aufgenommen, während der israelischen Bombardierung des belagerten Ghettos im Mai 2021. Diese aufschlussreiche Verwechslung (oder Falschmeldung?) nutzt der israelisch-britische linke Historiker Ilan Pappé als Einleitung zu seinem ausgezeichneten Artikel, in dem er die Heuchelei der politischen Eliten und der zahmen Medien des Westens aufdeckt.* Er zieht «vier Lehren aus der Ukraine» unter den folgenden sarkastischen Überschriften:
– «Weiße Flüchtlinge sind willkommen, andere sind es weniger.»
– «Sie können im Irak einmarschieren, aber nicht in der Ukraine.»
– «Manchmal kann Neonazismus toleriert werden.»
– «Beschuss von Hochhäusern ist nur in Europa ein Kriegsverbrechen.»
Unter den ironischen Fakten, die er erwähnt, stechen die beiden folgenden hervor:
– Eine der ersten Amtshandlungen von Präsident Wolodymyr Selenskyj war der Rückzug der Ukraine aus dem Ausschuss der Vereinten Nationen für die Ausübung der unveräußerlichen Rechte des palästinensischen Volkes, dem einzigen internationalen Tribunal, das dafür sorgt, dass die Nakba nicht geleugnet oder vergessen wird.
– Die Entscheidung wurde vom ukrainischen Präsidenten initiiert, der kein Mitgefühl für die Notlage der palästinensischen Flüchtlinge hatte und sie auch nicht als Opfer eines Verbrechens betrachtete. In seinen Interviews nach dem letzten barbarischen israelischen Bombardement des Gazastreifens im Mai 2021 erklärte er, dass die einzige Tragödie im Gazastreifen diejenige der Israelis sei. Wenn das so ist, dann sind es nur die Russen, die in der Ukraine leiden.
Im übrigen war die Ukraine unter einer früheren Pro-NATO-Regierung an der Verwüstung des Irak beteiligt.
Nichts von alledem soll und darf die kriminelle russische Invasion rechtfertigen. In jedem Fall gilt unsere volle Solidarität dem ukrainischen Volk, nicht seinen Politikern. Der Punkt ist, dass die Verurteilung von Aggression und Unterdrückung hohl ist, wenn sie selektiv ist.
Nachdem ich die Aufmerksamkeit auf Pappés Artikel gelenkt habe, möchte ich hier einige Bemerkungen zum politischen Verhalten Israels während der gegenwärtigen Krise hinzufügen.

Flüchtlinge
Israel macht einen strikten Unterschied zwischen jüdischen und nichtjüdischen Ukrainern, die einreisen und um Aufnahme bitten. Erstere werden auf der Grundlage des rassistischen Rückkehrgesetzes aufgenommen, das ihnen automatisch die israelische Staatsbürgerschaft verleiht.
Im Gegensatz dazu sind Nichtjuden mit enormen Hürden konfrontiert. Sie erhalten keinen Flüchtlingsstatus, sondern kurzfristige Touristenvisa. Darüber hinaus müssen sie nachweisen, dass sie einen israelischen Verwandten haben, der sie eingeladen hat; wenn es keinen solchen Verwandten gibt, müssen sie beweisen, dass sie sich nicht in Israel niederlassen würden. Darüber hinaus muss der Gastgeber eine Kaution von 10000 Schekel (über 2800 Euro) für den Antragsteller hinterlegen und, falls es sich nicht um einen Verwandten ersten Grades handelt, versprechen, dass er das Land innerhalb eines Monats verlassen wird. Es überrascht nicht, dass nur sehr wenige diese Hürden überwinden konnten. (Nach breiter Kritik wird die Kautionspflicht derzeit überarbeitet.)
Der Grund für diese Politik wurde von Innenministerin Ayelet Shaked deutlich gemacht. Sie hat mit Besorgnis festgestellt, dass über 90 Prozent der Ukrainer, die an Israels Grenzen ankommen, keine Juden sind und dass der Zustrom nichtjüdischer Flüchtlinge «nicht weitergehen kann». Das israelische Zentrum für Einwanderungspolitik hat davor gewarnt, dass die Aufnahme nichtjüdischer Flüchtlinge den jüdischen Staat mit einer «tickenden demografischen Zeitbombe» bedroht – ein anhaltender zionistischer Albtraum. Diese Befürchtung wird jedoch durch die Aussicht auf einen Zustrom von 100000 bis 200000 jüdischen Einwanderern aus der Ukraine und Russland entkräftet.

Gemütliche Beziehungen
Westliche Beobachter haben festgestellt, dass sich Israel in Sachen Verurteilung der russischen Aggression und bezüglich der von den USA und ihren Anhängern gegen das Land verhängten Sanktionen sehr zögerlich verhalten hat. Tatsächlich waren die Beziehungen Israels zu Putins Russland in den letzten zwanzig Jahren recht kuschelig – was angesichts seiner Position als enger Verbündeter und Protegé der USA überraschend erscheinen mag.
Dieses Verhältnis wird zweifellos durch die große israelische Gemeinschaft von Einwanderern aus Russland erleichtert, die starke persönliche und kulturelle Bindungen zu ihrem Herkunftsland bewahrt haben. Unter ihnen befinden sich einige Oligarchen – allen voran Putins Vertrauter Roman Abramowitsch, der die israelische Staatsbürgerschaft besitzt und einer der größten Milliardäre des Landes ist (er besitzt sowohl die portugiesische als auch die russische Staatsbürgerschaft).
Das Hauptmotiv für die fast freundschaftlichen Beziehungen Israels zu Russland ist jedoch strategischer Natur. Es hat mit Russlands starker Präsenz in Syrien zu tun, wo es dem Assad-Regime geholfen hat, an der Macht zu bleiben und seine Gegner zu unterdrücken: zunächst die linke Opposition und dann die verschiedenen reaktionären islamistischen Aufständischen. Für die israelische Strategie ist der wichtigste Aspekt der russischen Präsenz die Kontrolle über den syrischen Luftraum. Seit vielen Jahren führt Israel eine sog. «Kampagne zwischen den Kriegen» durch: eine Reihe von Attentaten, nachrichtendienstlichen Angriffen und militärischen Operationen auf niedriger Ebene, die nicht auf einen ausgewachsenen Krieg hinauslaufen und darauf abzielen, Israels regionale strategische Hegemonie zu erhalten und auszubauen.
Zu den Hauptzielscheiben dieser Kampagne gehören der Iran und seine Verbündeten, insbesondere die libanesische Hisbollah. Ein wichtiger Teil dieser Operationen sind häufige Angriffe der israelischen Luftwaffe auf Ziele in Syrien, zu denen iranische Truppen und Nachschublinien für militärisches Material und Ausrüstung der Hisbollah gehören. Die israelischen Angriffe auf den syrischen Luftraum bedürfen jedoch nicht nur der Zustimmung Russlands, sondern auch einer genauen Abstimmung.
Dies wurde durch einen Vorfall im September 2018 deutlich, als die syrischen Streitkräfte versehentlich ein russisches IL-20-Militärflugzeug abgeschossen hatten. Die Syrer versuchten, vier israelische Lockheed-Martin-F-16-Kampfflugzeuge zu treffen, die syrische Ziele angriffen; das russische Flugzeug kam ihnen in die Quere, weil sein Pilot nichts von der Anwesenheit der israelischen Flugzeuge in der Nähe wusste.
Seitdem verlangt Russland eine genaue israelische Benachrichtigung über seine geplanten Angriffe in Syrien. (Eine gute Frage: Warum erlaubt Russland Israel, in Syrien zu tun, was es will? Die Antwort ist, dass Russland um den Erhalt des Assad-Regimes besorgt ist; aber es ist nicht allzu sehr daran interessiert, dem Iran zu viel Einfluss in Syrien zu gewähren, der mit seinem eigenen konkurrieren könnte.)
Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine konnte Israels Premierminister Naftali Bennett seine einzigartige Position als enger Verbündeter der USA und regelmäßiger Gesprächspartner Russlands ausnutzen: Er hat sich freiwillig als Friedensvermittler zur Verfügung gestellt. Dies ist ein gewisses Risiko: Es könnte sein nationales und internationales Profil und Prestige erhöhen, aber es könnte auch Kritik auf sich ziehen, weil er sich bei Putin anbiedert. Bennett ist sich zweifellos der Risiken bewusst und wird die USA über seine Gespräche mit Putin auf dem laufenden halten.
Er wird so lange weitermachen, wie Biden und seine Berater daran interessiert sind, diesen Nebenkanal der Kommunikation mit ihrem russischen Gegner offen zu halten.

Quelle: https://weeklyworker.co.uk/worker/1386/hypocrisy-all-round/

*‘Navigating our humanity: Ilan Pappé on the four lessons from Ukraine’, Palestine Chronicle, 4.3.2022: www.palestinechronicle.com/navigating-our-humanity-ilan-pappe-on-the-four-lessons-from-ukraine

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