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Nur Online PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 05/2022

Nationalistische Radikalisierungstendenzen in der Ukraine
von Wolodymyr Ischtschenko

Die Ukraine steckt heute in einem Teufelskreis nationalistischer Radikalisierung, in dem sich rechtsextreme Gruppen und die herrschenden Oligarchen-Gruppen gegenseitig verstärken. Dies hat wesentlich zu einer Innenpolitik nach dem Euromaidan beigetragen, die das Land nicht eint, sondern spaltet und den Beziehungen der Ukraine zu ihren strategisch wichtigen Nachbarn schadet.

Das Fehlen einer klaren, institutionalisierten, politischen und ideologischen Abgrenzung zwischen liberalen und rechtsextremen Kräften verleiht der radikalen nationalistischen Agenda Legitimität. Darüber hinaus benützen die Oligarchen-Gruppen den sich radikalisierenden Nationalismus nicht, weil sie dessen Ideologie teilen, sondern weil er ihre Interessen weniger bedroht als die der liberalen Reformer.
Lokale Abschreckungsmaßnahmen reichen nicht aus, um dem Radikalisierungstrend entgegenzuwirken; die ukrainische extreme Rechte übertrifft die liberalen Parteien und Nichtregierungsorganisationen (NRO) in Bezug auf Mobilisierung und Organisationsstärke bei weitem. Der Westen muss auf einflussreiche ukrainische Persönlichkeiten und politische Parteien Druck ausüben, um die Ukraine von dieser selbstzerstörerischen Entwicklung abzubringen.

Die Haltung der Massen und die reale Politik
Es gibt zwei große Erzählungen über den Nationalismus in der Ukraine nach dem Euromaidan: wahlweise ist es die "faschistische Junta" oder die "zivile Nation". Erstere wurde von der Anti-Euromaidan-Bewegung, prorussischen Separatisten und der russischen Regierung verbreitet. "Faschistisch" bezieht sich in erster Linie auf die ukrainischen radikalen Nationalisten in den Parteien Swoboda und Rechter Sektor, die zu den aktivsten kollektiven Akteuren der ukrainischen Revolution von 2014 gehörten. "Junta" bezieht sich auf die verfassungswidrige Amtsenthebung des ehemaligen Präsidenten Viktor Janukowitsch.
Nach den ersten Minsker Vereinbarungen im September 2014 verschwand das Narrativ der "faschistischen Junta" aus den russischen Medien (wenn auch nicht aus den pro-separatistischen Quellen) – das spiegelte die offizielle Strategie Moskaus wider, mit der neuen Regierung in Kiew zu verhandeln statt sie zu beseitigen. In der Tat wurde damals der Einfluss rechtsextremer Gruppen und politischer Parteien übertrieben, die schließlich nur relativ marginale Positionen in der neuen Regierung einnahmen, bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen schlecht abschnitten und nach Oktober 2014 ganz aus der Regierung austraten.
Das entgegengesetzte, liberal-optimistische Narrativ besagt, dass infolge des Euromaidan und des Krieges im Donbass eine "zivile Nation" entstanden sei. Diese neue bürgerliche Identität schließt angeblich alle Regionen, Kulturen und Sprachgruppen des Landes ein. Die wichtigsten systematischen Belege für diese Behauptung sind verschiedene Umfragen, die darauf hindeuten, dass die Antworten auf die Frage nach der ukrainischen Identität eher "bürgerlich" als "ethnisch" ausfallen. (1) Tatsächlich aber hat sich die ukrainische Politik in die entgegengesetzte Richtung entwickelt.
Das schlechte Wahlergebnis der rechtsextremen Parteien im Jahr 2014 hat gezeigt, dass sie nicht in der Lage sind, mit den etablierten, auf Oligarchengeld und -medien gestützten, politischen Apparaten zu konkurrieren. Dabei wird jedoch die wachsende – und im heutigen Europa beispiellose – außerparlamentarische Macht der ukrainischen extremen Rechten ignoriert, die in den letzten Jahren in der Lage war:

  • Strafverfolgungsbehörden in den höchsten Positionen zu durchdringen;
  • halbautonome, politisch loyale, bewaffnete Einheiten innerhalb der offiziellen Gesetzesvollzugsorgane zu bilden;
  • starke Positionen und Legitimität innerhalb der Zivilgesellschaft zu entwickeln und oft eine zentrale Rolle in den dichten Netzwerken von Kriegsveteranen, Freiwilligen und lokalen Aktivisten zu spielen.
    Wahlergebnisse sind kein guter Maßstab für den Einfluss radikaler Nationalisten. Es behauptet auch niemand, dass die euro-optimistischen Liberalen in der Ukraine wegen ihrer schlechten Wahlergebnisse und der geringen Akzeptanz der liberalen Demokratischen Allianz oder der Volksmacht (Syla Lyudei) eine marginale Position einnehmen. Diese beiden sind wohl die einzigen relevanten Parteien, die Ideologie ernst nehmen und sie nicht opportunistisch nutzen, um Zustimmung und Unterstützung von westlichen Eliten und der ukrainischen Wählerschaft zu erhalten. Einer der Gründe für das schlechte Abschneiden der extremen Rechten bei den Wahlen ist, dass die "zentristischen" Wahlauftritte der Oligarchen Themen, Rhetorik und Parolen der radikalen Nationalisten übernehmen und damit den politischen Mainstream nach rechts verschieben.
    Es handelt sich hier nicht einfach um einen patriotischer Reflex auf die Annexion der Krim durch Russland und den Krieg im Donbass. Die Ukraine war schon immer ethnisch und sprachlich vielfältig, schaut auf ein Erbe an historischen Konflikten mit den Nachbarn im Osten und Westen zurück und besitzt plurale und stark gegensätzliche Versionen der historischen Erinnerung an die Sowjetunion und die Beziehungen zu den Russen. Gerade weil diese Themen von den russischen Medien in ihrem Informationskrieg ausgenutzt wurden, hätte eine kluge Strategie in Kiew darin bestanden, die Einheit gegen Putins Regierung zu fördern, nicht aber gegen das sowjetische Erbe, gegen die russischsprachige Kultur und abweichende Stimmen.
    Trotz der zunehmend positiven Haltung der Bevölkerung gegenüber der Organisation der Ukrainischen Nationalisten und der Ukrainischen Aufständischen Armee (OUN-UPA) dank ihrer Förderung sowohl durch den Staat als auch durch die extreme Rechte, werden diese immer noch nicht von einer Mehrheit unterstützt (gleiches gilt für die Entkommunisierungspolitik [Säuberungspolitik]).
    Darüber hinaus gefährdet die Verherrlichung der OUN-UPA bei gleichzeitiger Beschönigung ihrer Verbrechen und ihrer Ideologie die Beziehungen der Ukraine zu Nachbarn wie Polen, wo Spitzenbeamte damit gedroht haben, die europäische Integration der Ukraine zu blockieren, obwohl Warschau die antirussische, außenpolitische Ausrichtung der Ukraine teilt. Die Ukrainisierung der öffentlichen Einrichtungen und Medien wird mehrheitlich befürwortet, zumindest in den von der Regierung kontrollierten Teilen des Landes. Die Verabschiedung eines neuen Bildungsgesetzes, das den Gebrauch der Minderheitensprachen in den Schulen einschränkt, rief jedoch in Ungarn heftigen Widerstand hervor. (2) Im Februar dieses Jahres hob das ukrainische Verfassungsgericht das Gesetz aus dem Jahr 2012 auf, das den offiziellen Status der russischen Sprache in bestimmten Regionen ermöglichte. Ein früherer (später abgelehnter) Versuch, das Gesetz unmittelbar nach dem Sturz Janukowitschs aufzuheben, hat die Anti-Euromaidan-Mobilisierungen in den südlichen und östlichen Regionen massiv befeuert. Der vorherrschende Ansatz war nicht die Suche nach Dialog und Versöhnung, sondern die Ausgrenzung und Unterdrückung abweichender Meinungen. Diese Stimmen wurden oft als "fünfte Kolonne" gebrandmarkt, die angeblich – willentlich oder unwillentlich – aus russischen Agenten besteht. Kiew hat diesen Ansatz durch folgende Maßnahmen unterstützt:
  • Medienzensur und Propaganda;
  • Hassreden, auch von Seiten einiger Regierungsvertreter, Abgeordnete und Prominenter;
  • Legale und extralegale Unterdrückung von Meinungen, friedlichen Versammlungen und Organisationen;
  • Belästigung, körperliche Gewalt und strafrechtliche Verfolgung von Journalisten, die anderer Meinung sind, Experten und Medien der Opposition;
  • Blockierung von Zahlungen und Handel mit Gebieten, die nicht unter staatlicher Kontrolle stehen.
    Außergesetzliche Repressionsmaßnahmen wurden häufig von rechtsextremen paramilitärischen Gruppen und Bürgerwehren durchgeführt, die manchmal mit staatlichen Kräften zusammenarbeiteten. Die politischen Repressionen waren selektiv und willkürlich. Es gab mehrere Fälle von Strafverfolgung wegen Äußerung einer pro-separatistischen oder sogar kommunistischen Meinung im Internet, während einige Politiker und Oligarchen, die von der Öffentlichkeit als angeblich pro-russisch wahrgenommen werden, nicht sichtbar angegriffen wurden. Es zeigt sich hier eine Kombination aus der unterschiedlichen Fähigkeit der Opfer, sich zu wehren, der selektiven Aufmerksamkeit des Westens, von Widersprüchen innerhalb der regierungsfreundlichen Eliten und der Schwäche, Korruption, Inkompetenz und Ineffizienz der ukrainischen Strafverfolgungsbehörden (die nur teilweise durch patriotische Bürgerwehren ersetzt werden).

Trotz der Tatsache, dass 30-40 Prozent der Bürger in den von der Regierung kontrollierten Gebieten der Ukraine insgesamt und die Mehrheit der Menschen selbst in den von der Regierung kontrollierten südöstlichen Regionen das Regierungsnarrativ über die "Revolution der Würde" und den von Russland gesteuerten Krieg im Donbass nicht teilen, sind

Generell verfolgte der Staat im Umgang mit Dissidenten und den Medien sowie Organisationen der Opposition keinen inklusiven, sondern einen ausschließenden Ansatz, meist auf der Grundlage des Pro-Euromaidan-Narrativs über die Ereignisse von 2014 und einer nationalistischen Interpretation der ukrainischen Identität und Geschichte. Die ukrainische Regierung hat auf einer ausgrenzenden Politik beharrt, die die internen Spaltungen in der ukrainischen Gesellschaft verschärft, obwohl ein großer Teil der Bevölkerung (manchmal sogar die Mehrheit der Bürger) diese Narrative nicht unterstützt, sie bei einigen strategischer Nachbarn der Ukraine fürEmpörung sorgt, internationale Menschenrechtsorganisationen regelmäßig Kritik äußern und sie den Verpflichtungen aus dem Minsker Abkommen entgegensteht. Das schadet der ukrainischen Regierung bei ihrer Aufgabe, nationale und internationale Unterstützung zu erhalten, und verringert die Chancen der Ukraine, ihren Konflikt mit den separatistischen Kräften und mit Russland zu lösen.

Warum kommt es zu dieser Radikalisierung?
Diese Entwicklung ist auf die Konkurrenz zwischen den Oligarchengruppen und zwischen pro-westlichen Liberalen und Rechtsextremen in der ukrainischen Zivilgesellschaft zurückzuführen. Die beiden Letztgenannten waren neben den ehemals oppositionellen oligarchischen Parteien die beiden wichtigsten organisierten Säulen des Euromaidan-Aufstandes. Es wäre naiv anzunehmen, dass die schädliche nationalistische Politik der Post-Euromaidan-Regierung von irgendeiner Ideologie der Eliten getragen wird. Die Mehrheit der Eliten sind ebenso wenig überzeugte radikale Nationalisten wie pro-westliche liberale Reformer. Alles in allem sind sich viele Forscher einig, dass sich das politische System der Ukraine seit der Revolution nicht grundlegend verändert hat, viele beschreiben es immer noch als eine Art hybrides Regime, das sich auf konkurrierende Klientelgruppen unter der Führung großer Oligarchen stützt.
Die Anti-Korruptions-Agenda der Liberalen bedroht die selektiven Präferenzen des Staates – das ist die Quelle der hauptsächlichen Wettbewerbsvorteile der ukrainischen Oligarchen. Auf der Suche nach einer Antwort auf die wachsende gesellschaftliche Enttäuschung über das Ausbleiben der sehnlichst erwarteten Reformen fällt es den oligarchischen Eliten viel leichter, in eine nationalistische Agenda einzustimmen, als in das Anti-Korruptionsprogramm der Liberalen, das die unmittelbaren Interessen der Oligarchen gefährdet. Obwohl die nationalistische Agenda für das Regime langfristig destabilisierend sein kann, verschafft sie den Eliten kurzfristig wichtige politische Vorteile. Sie hilft ihnen, die Opposition zu schwächen; liberale Anhänger werden verwirrt und gespalten, wenn sie von oben den Vorwurf hören, dass "politische Instabilität Russland hilft" – ein Trick, der beispielsweise gegen die von Michail Saakaschwili angeführten Proteste angewandt wurde. Die Radikalisierung wird noch dadurch begünstigt, dass die ukrainische Politik nicht, wie in Russland oder Weißrussland, von einer einzigen Klientelgruppe beherrscht wird, sondern von mehreren konkurrierenden Gruppen. Würde Präsident Petro Poroschenko versuchen, die nationalistische Agenda zu ignorieren, würden beispielsweise die Volksfront oder Ihor Kolomoiskyi dies aufgreifen und gegen ihn wenden. (3)
Auf der anderen Seite erklären die Ressourcen, das Mobilisierungspotenzial und die Organisationsstruktur der zivilgesellschaftlichen Gruppen, die den Euromaidan befürworten, warum die herrschenden Oligarchengruppen lieber in Wettstreit mit einer nationalistischen Agenda treten, statt sie einfach zu vermeiden. Das politische Regime der Ukraine war schon vor dem Euromaidan schwach, danach wurde es aufgrund interner und externer Zwänge noch schwächer. Um den von Russland unterstützten Separatistenaufstand zu bekämpfen, konnte sich die Regierung 2014 nicht vollständig auf die (systematisch unterfinanzierte und nicht kampfbereite) Armee oder auf die illoyalen Ordnungshüter im Donbass verlassen; sie musste das Gewaltmonopol mit den relativ autonomen Freiwilligenbataillonen teilen.
Nachdem die Ukraine ihre wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zu Russland abgebrochen hat, ist sie stärker von der finanziellen und politischen Unterstützung des Westens abhängig geworden. Diese Beziehung wird vom liberalen Flügel genutzt, um die Anti-Korruptions-Agenda voranzutreiben. Der sich radikalisierende Nationalismus in der ukrainischen Politik gehörte jedoch nicht zu den Hauptsorgen der westlichen Eliten. In der Zwischenzeit üben rechtsextreme Gruppen direkten Druck auf die Regierung aus und stützen sich dabei auf ihr eigenes Mobilisierungspotenzial und politisch loyale, bewaffnete Einheiten. Diese Einheiten sind heute an der Front weniger wichtig als noch vor einigen Jahren, aber sie halten dennoch erfahrene und engmaschige Kampfgruppen aufrecht, die sich aus den ideologisch engagiertesten Kämpfern zusammensetzen (die nicht so sehr für die Kiewer Regierung, sondern für ihre eigene Vision der Ukraine kämpfen). Diese Einheiten unterhalten enge Verbindungen zu anderen Einheiten und Gleichgesinnten und sind in der Lage, sie zu nutzen, um Ressourcen zu beschaffen. Sie knüpfen auch aktiv Kontakte zu jungen radikalen Nationalisten und Bürgerwehren, nach dem Euromaidan entstanden sind. Diese Netzwerke sind einflussreich, vor allem dann, wenn zivilgesellschaftliche Gruppen in Wirklichkeit Tarnorganisationen der extremen Rechten sind und wenn sie gegen Behörden, Andersdenkende und Politiker mobilisieren, die sie als "pro-russisch" betrachten.
Der rechtsextreme und der liberale Flügel stützen sich nicht nur auf unterschiedliche Ressourcen, sie sind auch verschieden organisiert, was sich unmittelbar auf ihr politisches Mobilisierungspotenzial auswirkt. Die extreme Rechte bildet ideologische Parteien, nämlich Svoboda, Rechter Sektor und Nationales Korps (die Partei des Asow-Regiments). Die Liberalen hingegen sind hauptsächlich in Nichtregierungsorganisationen organisiert. Natürlich sind einige bekannte liberale Aktivisten und Journalisten (bei den Wahlen 2014) regierungsfreundlichen Parteien beigetreten und haben sich mit Pro-Euromaidan-Oppositionsparteien (Batkivshchyna oder Samopomich) verbündet. Die liberalen politischen Parteien sind jedoch sehr schwach, und bei den liberalen NROs handelt es sich überwiegend um Denkfabriken, Mediengruppen und Interessenvertretungsorganisationen und weniger um Mobilisierungsorganisationen für die Bevölkerung. Die liberalen Organisationen wenden sich in der Regel an Entscheidungsträger der Elite, Experten und die breite Öffentlichkeit, haben aber selbst nur ein geringes direktes Mobilisierungspotenzial.
Im Gegensatz dazu haben sich die rechtsextremen Parteien bemüht, landesweit Netze von zusammenhängenden, mobilisierten Kollektiven ideologisch engagierter Aktivisten aufzubauen. Ihr Mobilisierungspotenzial – nicht nur die Zahl ihrer Anhänger, sondern auch ihre Bereitschaft, sich aktiv und intensiv an politischen Aktionen zu beteiligen – ist deutlich höher als das der liberalen NROs oder der oppositionellen Wahlmaschinen.
Die nachstehende Abbildung veranschaulicht dies, indem sie die Zahl der Protestveranstaltungen im Jahr 2016 mit der gemeldeten Beteiligung der wichtigsten rechtsextremen Kräfte, der Paramilitärs, der parlamentarischen und wichtigsten außerparlamentarischen Parteien sowie der bekanntesten Gruppen von Bürgerinitiativen nach dem Euromaidan vergleicht.

Abbildung: https://www.sozonline.de/wp-content/uploads/2022/05/Figure-1.-Participation-in-Protest-Events-2016.pdf

Quelle: Ukrainische Daten über Proteste und Nötigung. Die Daten basieren auf einer systematischen Kodierung aller Proteste, die von fast 200 lokalen ukrainischen Nachrichten-Webmedien gemeldet wurden. Ereignisse auf der Krim, in den Regionen Donezk und Lugansk sind in diesen Zahlen nicht enthalten. Die Datenerhebung und methodische Fragen werden erörtert in: Volodymyr Ishchenko, "Far right participation in the Ukrainian Maidan protests: an attempt of systematic estimation", European Politics and Society, Vol. 17, No. 4, March 15, 2016. In der obigen Abbildung sind die angeschlossenen Organisationen zu den jeweiligen Parteizahlen hinzugezählt. Die Kategorien "AutoMaidan", "Selbstverteidigung" und "SOS" stellen weder einheitliche kollektive Akteure noch stabile Koalitionen oder Netzwerke dar; es handelt sich lediglich um Dachmarken für lokale NROs und Initiativen, die in verschiedenen Städten im allgemeinen die gleichen Aktivitäten durchführen.

Außerdem ist es für rechtsextreme Parteien leichter als für liberale, ein Narrativ über die Nation zu entwickeln. Rechtsextreme Parteien berufen sich auf die historische Tradition des ukrainischen radikalen Nationalismus, und es ist klar, was zu erwarten ist, wenn sie an die Macht kommen: mehr Verherrlichung des ukrainischen Nationalismus, mehr Antikommunismus, Marginalisierung der öffentlichen Präsenz der russischen Sprache, kompromisslose Konfrontation mit Russland, Widerstand gegen jede Versöhnung mit der "fünften Kolonne" und institutionalisierte Diskriminierung der "pro-russischen" Bevölkerung. Hingegen gibt es keine starke liberale ideologische Partei, die eine Tradition des ukrainischen Liberalismus erfinden oder entwickeln und institutionalisieren würde. Daher ist viel weniger klar, was genau der bürgerliche Nationalismus der Liberalen in Bezug auf die entscheidenden Fragen der ukrainischen Identität vorschlägt.
Historisch gesehen unterstützte die pro-ukrainische Zivilgesellschaft, die in den späten 1980er Jahren als national-demokratische Bewegung entstand, die Verflechtung von Forderungen nach nationaler Befreiung und Demokratisierung. Seitdem hat sich die nationalistisch-liberale Koalition nicht wirklich gespalten, sie ist eher latent geblieben und in jedem entscheidenden Moment wieder aufgetaucht: während der Orangenen Revolution 2004, dem Euromaidan 2013/14 und kürzlich bei den Anti-Korruptions-Protesten gegen Präsident Poroschenko. Es fehlt eine institutionalisierte politische und ideologische Grenze zwischen dem liberalen Flügel der Zivilgesellschaft und der extremen Rechten; das trägt zur Legitimierung der radikalen nationalistischen Agenda und Aktionen bei.
Eine der gefährlichsten Folgen davon ist die fehlende öffentliche Verurteilung der Unterdrückung von Dissidenten (die oft einfach als "prorussisch" gebrandmarkt werden) durch die Regierung und der rechtsextremen, außergesetzlichen Gewalt gegen sie. So ist beispielsweise C14, eine Neonazi-Gruppe, die Svoboda nahe stand, jetzt aber autonom ist, für gewalttätige Angriffe und Schikanen gegen andersdenkende Journalisten, Blogger und Aktivisten bekannt – Aktionen, die sie als hybriden Krieg gegen innere Feinde rechtfertigen. Trotz ihrer gewalttätigen Aktionen erhält C14 im allgemeinen eine wohlwollende oder nur leicht kritische Berichterstattung von seriösen Medien wie BBC-Ukraine, Radio Liberty und Hromadske Radio. Ihr jüngster gewaltsamer Angriff auf ein Roma-Lager in Kiew löste eine breitere, wenn auch noch schwache Kritik aus.

Schlussfolgerung
Weder Moldawien noch Georgien, die sehr ähnliche interne und externe Konflikte erlebt haben, erfuhren eine ähnlich starke Radikalisierungsdynamik wie die Ukraine. Das heißt, dass die Radikalisierung ihre Wurzeln vor allem in der Struktur des politischen Regimes und in der Zivilgesellschaft der Ukraine hat. Für die Eliten nach dem Euromaidan ist die nationalistische Radikalisierung ein Mittel, um ihre Macht zu konsolidieren, die extreme Rechte zu bändigen und die Liberalen zu spalten. Gleichzeitig bietet sie der extremen Rechten einen legitimatorischen Deckmantel, um die Messlatte für ihre nationalistischen Forderungen höher zu legen – unterstützt durch paramilitärischen Ressourcen und ein hohes Mobilisierungspotenzial (was in Ermangelung einer starken liberalen Opposition auch gelingt). Kurzfristig wird sich die nationalistische Radikalisierung durch den Parteienwettbewerb vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Jahr 2019 verschärfen. Langfristig wird sie sich nachteilig auf das Vertrauen unter den Bürgern und zwischen der Ukraine und ihren Nachbarstaaten sowie auf die staatliche Leistungsfähigkeit und die Demokratie in der Ukraine auswirken.

PONARS Eurasia Policy Memo Nr. 529, Mai 2018
© PONARS Eurasia 2017. Die Verantwortung für die getroffenen Aussagen und geäußerten Ansichten liegt allein beim Autor. PONARS Eurasia ist ein internationales Netzwerk von Wissenschaftlern, die neue Ansätze in der Forschung zu Sicherheit, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in Russland und Eurasien vorantreiben. PONARS Eurasia hat seinen Sitz am Institut für Europäische, Russische und Eurasische Studien (IERES) an der Elliott School of International Affairs der George Washington University. Diese Veröffentlichung wurde zum Teil durch einen Zuschuss der Carnegie Corporation of New York ermöglicht, www.ponarseurasia.org

Volodymyr Ishchenko ist Dozent an der Abteilung für Soziologie am Igor Sikorsky Polytechnischen Institut in Kiew.

1 Siehe: Grigore Pop-Eleches und Graeme Robertson, "Revolutions in Ukraine: Shaping Civic Rather Than Ethnic Identities", PONARS Eurasia Policy Memo Nr. 510, Februar 2018.
2 Siehe: Volodymyr Kulyk, "Ukraine's 2017 Education Law Incites International Controversy Over Language Stipulation", PONARS Eurasia Policy Memo No. 525, 2018.
3 Für weitere Informationen über die rechtsextremen Verbindungen nach dem Euromaidan siehe: Denys Gorbach und Oles Petik, "The rise of Azov", OpenDemocracy, 15.Februar 2016.

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