Russischer Krieg im amerikanischen Weltsystem
von Ingo Schmidt*
Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine sind die Reihen der NATO fest geschlossen. Über den Krieg in der Ukraine hinaus versprechen die Regierungen der Mitgliedsländer mehr militärisches Engagement.
Der Moment der Einheit wird nicht von Dauer sein. Die zentrifugalen Kräfte, die den Zusammenhalt der NATO-Mitglieder über Jahre ausgehöhlt und Misstrauen der Bevölkerung gegenüber ihren Regierungen, wenn nicht gar «dem System», erzeugt haben, werden durch den Krieg verstärkt. Es sind die gleichen Kräfte, die den russischen Präsidenten Putin zum Angriff auf die Ukraine getrieben haben – aus einer Position der Schwäche, nicht der Stärke.
Die Ausgangsbedingungen
Politisch ist Russland ein Riese. Wegen seiner Atomwaffen. Ein Erbe aus Sowjetzeiten, das schwer auf dem Land lastet. Denn wirtschaftlich ist Russland ein Zwerg.
4,3 Prozent des russischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) fließen in die Rüstung, das sind 3,1 Prozent der globalen Rüstungsausgaben. Deutschland gab für seinen Anteil an den globalen Rüstungsausgaben von 2,7 Prozent im letzten Jahr nur 1,4 Prozent des BIP aus. Großbritannien schafft seinen Anteil von 3,1 Prozent mit 2,7 Prozent seines BIP. China gibt für 13 Prozent der globalen Ausgaben 1,7 Prozent des BIP aus. Die USA kommen auf 39 Prozent der globalen Rüstungsausgaben mit 3,7 Prozent des BIP.
Das russische Militär ruht also auf einer schwachen ökonomischen Grundlage. Auch gesamtwirtschaftlich fallen seine Rüstungsexporte kaum ins Gewicht, obwohl es nach den USA der zweitgrößte Waffenlieferant der Welt ist. In erster Linie ist Russland Exporteur von Öl, Gas, Kohle, Weizen und verschiedenen Mineralien. Ähnlich den Potentaten anderer Länder, die von Rohstoff- und Agrarexporten abhängen, schaffen die russischen Oligarchen ihre Gewinne ins Ausland – als privates Vermögen, nicht zur Stärkung russischer Konzerne im Ausland. Gazprom, Russlands Nr.1, bringt es gerade mal auf Platz 84 der globalen Konzernliste. Unter den Top 50 sind 23 US-Konzerne, 13 aus China, je zwei aus Deutschland, Japan und Großbritannien.
Standards statt Fabriken
Ganz klar: in Sachen militärischer und wirtschaftlicher Größe sind die USA die Nr.1. Trotzdem ist ihr Modell globaler Herrschaft in Gefahr. Unter dem Druck militanter Arbeiterkämpfe und ausländischer Konkurrenz haben sich US-Firmen seit den 80er Jahren zunehmend aus der industriellen Fertigung zurückgezogen.
Als Klassenkämpfe daheim und ausländische Konkurrenz den Wettbewerbsvorteil amerikanischer Fabriken – eine bis dahin tragende Säule amerikanischer Vorherrschaft – zerstört hatten, wurde diese Herrschaft auf anderer Grundlage wiederhergestellt.
Juristische und technologische Standards sowie Managementpraktiken «made in USA» lieferten fortan den organisatorischen Rahmen für globale Lieferketten, die von der US Army mit ihrem globalen Netz an Stützpunkten abgesichert wurden. Unternehmen aus aller Welt waren eingeladen, sich in das globale Produktions- und Logistikmodell einzuklinken, sofern sie die Geschäftsbedingungen akzeptierten: Technologische Renten fließen in die USA, die sich darüber hinaus unbegrenzt in Dollar gegenüber ihren Handelspartnern verschulden dürfen. Ein klarer Standortvorteil.
Trotzdem ließen sich viele westeuropäische und japanische Unternehmen auf den Deal ein. Die Aussicht, Gewerkschaften und Sozialstaat im eigenen Land zu umgehen und billige Arbeitskraft anderswo zu beschäftigen, war zu verlockend. Die damit verbundenen Profithoffnungen haben sich vollauf erfüllt. Mit Nebenwirkungen: einige Billiglohnländer wurden, wenn schon nicht zu kapitalistischen Zentren, so doch zu einer ernsthaften wirtschaftlichen Konkurrenz: die asiatischen «Tigerstaaten», Regionalmächte wie Brasilien, Indien und Südafrika.
China
Und dann das chinesische Hybridmodell aus Manchesterkapitalismus und Staatssozialismus. Die Hoffnung der USA und ihrer NATO-Partner, die Einbindung Chinas in globale Produktions- und Logistiknetzwerke werde das Land zu einem Kapitalismus pur machen, haben sich nicht erfüllt. Bislang konnte das Regime in Peking den Widerspruch zwischen Chinas Rolle als Fabrik der kapitalistischen Welt und antisystemische Herausforderung in einer Art «friedlichen Koexistenz in einem Land» austarieren.
Die USA haben China zur größten politischen Herausforderung erklärt, eine Rolle, die sie fast zwei Jahrzehnte lang den Taliban & Co. zugeschrieben hatten. In Sachen Handel beschränken sie sich aber bislang auf eher symbolische Sanktionen und klagen laut über jede Unterbrechung transpazifischer Lieferketten. Solange beide Seiten den Abbruch ihrer Wirtschaftsbeziehungen und militärische Konfrontation vermeiden wollen, sind China und die USA zur antagonistischen Kooperation verdammt. Nicht das Verhältnis der USA zur EU, nicht die Spannungen zwischen NATO und Russland, sondern die transpazifischen Beziehungen bestimmen die Weltpolitik.
Der russische Angriff auf die Ukraine bot den USA eine willkommene Gelegenheit, die EU an sich zu binden, obwohl Europa in globaler Perspektive nur noch eine untergeordnete Rolle spielt. Den Regierenden der EU-Mitgliedstaaten ist die wiedergefundene Einheit mit den USA nach Euro-Krise und Brexit nur recht. Wie die vor wenigen Jahren für hirntot erklärte NATO, hat auch die EU durch den Krieg in der Ukraine eine neue Aufgabe gefunden.
Zeichen der Schwäche
Vorübergehend wenigstens. Die Erschöpfung amerikanischer Macht lastete schon vor dem Krieg in der Ukraine schwer auf Weltwirtschaft und -politik. Der Rückzug aus Afghanistan, der selbst für die Verbündeten der USA aus heiterem Himmel kam, bestätigte ein weiteres Mal, was schon der Krieg gegen den Irak gezeigt hatte: Die US Army kann zu Feinden erklärte Regime aus dem Amt jagen, ihre Anführer ermorden, aber weder Armee noch zivile Organisationen können wohlgesonnene Regime etablieren, die sich ohne dauerhafte Unterstützung durch die USA oder ihre Verbündeten an der Macht halten können.
Wie schon der Vietnamkrieg waren auch alle nachfolgenden Kriege der USA ein tolles Geschäft für die Rüstungsindustrie, haben aber zugleich deutlich gemacht, dass militärische Zerstörungskraft nicht mit politischer Gestaltungskraft verbunden war.
Diese Kriege haben auch keine neuen Märkte eröffnet. Der Irak, Jugoslawien und Afghanistan waren bereits Teil des kapitalistischen Weltmarkts, als sie angegriffen wurden. Gesamtwirtschaftlich waren die US-Kriege ein schlechtes Geschäft. Trotz erheblicher Rüstungsausgaben gab es in den USA keine Rüstungskonjunktur wie im Zweiten Weltkrieg oder den ersten Jahrzehnten des Kalten Krieges. In nicht unerheblichem Maße haben die Kriege zu steigenden Staats- und Auslandsschulden beigetragen.
Hinzu kommt die Verschuldung privater Haushalt. Über Jahrzehnte haben billige Kredite den Konsum trotz stagnierender Masseneinkommen am Laufen gehalten und zur Finanzkrise beigetragen. Dass der Dollar immer noch als Reservewährung dient, liegt nicht am Vertrauen der Anleger, sondern daran, dass Chinesen wie Europäer das Risiko scheuen, Renminbi oder Euro als Alternativen an den Start zu bringen. Das Einfrieren afghanischer und russischer Währungsreserven durch die US-Regierung wird das Vertrauen in den Dollar weiter schwächen.
Ein unter Schulden und Spekulation ächzendes, dollarzentriertes Finanzsystem hat schon gegen Ende der Corona-Rezession im Frühsommer 2020 zur Spekulation auf einen Aufschwung geführt. Der Aufschwung blieb in immer neuen Corona-Wellen stecken, bis der Ukrainekrieg Investitions- und Konsumlust privater Unternehmen und Haushalte noch weiter eingetrübt hat. Aber die Spekulation ist geblieben – auf den Rohstoff- und Agrarmärkten.
Von dort ist sie auf die Gütermärkte übergesprungen. Steigende Inflationsraten haben zu einem bitteren Streit der wirtschaftspolitischen Eliten geführt, ob sie die Inflation als kleineres Übel hinnehmen oder durch Einschränkung des Geldangebots zurückdrängen sollen, wissend, dass eine ohnehin schon schwächelnde Konjunktur damit vollends abgewürgt würde. Werden die in vielen Ländern angekündigten Erhöhungen der Rüstungsausgaben umgesetzt, werden Haushalte am unteren Ende der Einkommenspyramide, deren Kaufkraft eh schon von der Inflation angefressen wurde, auf Butter verzichten müssen. Für mehr Kanonen.
Noch härter trifft es die Armen in den Peripherieländern. Die Preise für Grundnahrungsmittel sind schon vor dem russischen Angriff gestiegen, danach hat die Ukraine einen Exportstopp für Weizen verhängt, der insbesondere in Nordafrika zu Versorgungsengpässen führen wird. Dort geht es nicht um die Butter, sondern ums Brot.
In Sachen Energie drängen sich die USA geradezu als Ersatzlieferant auf, beweisen damit aber weniger Führungsstärke denn Verzweiflung. Die russischen Gasreserven reichen für 77 Jahre, die der USA für 14. Ein weiteres Zeichen der Schwäche: Bei allem Sanktionsgedröhne gegenüber russischem Öl und Gas hat die US-Regierung den Import russischen Urans aus Ermangelung anderer Quellen von den Sanktionen ausgenommen.
*Ingo Schmidt ist Ökonom und leitet das Labour Studies Program der Athabasca University in Kanada.
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