Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 06/2022

Rudolf Brunngraber – ein vergessener Schriftsteller
von Dieter Braeg

Rudolf Brunngraber: Karl und das zwanzigste Jahrhundert. Mit einem Dossier
von Kasimir Edschmid. Nördlingen: Franz Greno, 1988

Sinclair Lewis (Literaturnobelpreis 1930) nannte Rudolf Brunngrabers Roman Karl und das zwanzigste Jahrhundert, der in viele Sprachen übersetzt wurde, das zeitwichtigste lesenswerte Buch. Rudolf Brunngraber der heute noch kaum bekannt ist, war sogar noch nach Ende des Zweiten Weltkriegs ein Erfolgsschriftsteller.

Rudolf Brunngraber schildert in seinem Roman Karl und das zwanzigste Jahrhundert den Weg, den Karl Lakner, 1893 im Findelhaus in Hernals als uneheliches Kind einer Hausgehilfin geboren, bis zum 23.Februar 1931 durchschreiten musste und der mit seinem Freitod endet. Viele selbst erlebte Ereignisse Brunngrabers finden sich in diesem Roman wieder.
Karl Lakners Vater kam der Militärpflicht nach, heiratete später die Mutter und wurde Straßenbahner, verfiel aber dem Alkohol. Währenddessen musste Karl von frühester Jugend an in seiner schulfreien Zeit abhängig Beschäftigungen nachgehen. Er erreichte, dass er das Lehrerseminar, immer nebenbei arbeitend, besuchen konnte (während der Vater, im Dienst degradiert, verwahrloste).
Karl fand wegen einem Überangebot an Lehrerinnen und Lehrern keine Anstellung und absolvierte sein einjähriges Jahr, das geradewegs in den Ersten Weltkrieg mündete. Er brachte es zum Oberleutnant, und nach vielen Auszeichnungen und der Rückkehr aus russischer Kriegsgefangenschaft wurde er als Fliegeroffizier zum Ritter des Kronenordens geschlagen.
In dem Kapitel «Die große Entladung» erreicht Brunngraber eine schriftstellerische Qualität, die mit Erich Remarques Im Westen nichts Neues mithalten kann!
Aus italienischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt, fand Karl wieder keine Anstellung als Lehrer, wurde durch zufällige Begegnung nach Schweden verschlagen, verlebte dort einige Jahre unter treuherzigen Freunden, kehrte, zu seinem Unheil, nach Wien zurück. Dort fand und verlor er eine Anstellung in einem Geschäftshaus und reihte sich dann in die Armee jener Hunderttausender ein, die, einmal der Arbeitslosigkeit ausgeliefert, in ihr umkommen.
Er sinkt und sinkt, wird von Frauen, die auch die Not auf die Straße warf, ausgehalten und ist in seinem Ekel über die Fäulnis seines Daseins nahe daran, zum Lust- oder Raubmörder an einem Mädchen zu werden, das ihm, aus gesichertem Hafen, über den fauligen Sumpf seines Daseins die Hand reichen möchte. Im Endeffekt endet Karl als Selbstmörder.
Das Leben, die Erlebnisse und Stationen von Karl Lakner sind in diesem Roman ein Handlungsstrang. Taylor und seine menschenverachtende Rationalisierungswissenschaft, die Geschichte des Trusts und der Rüstungsindustrie, die Produktionszunahme bis zum Produktionsüberfluss; die Geschichte der russischen Revolution bis zum Bolschewismus, die Bündnis- und Einkreisungspolitik, die Vorbereitung zum Krieg – das sind weitere Hauptpunkte, die im ersten Drittel des 20.Jahrhunderts eine wichtige Rolle spielen und die der Autor mit dem Leben seiner Romanfigur Karl Lakner konfrontiert.
Brunngraber ist ein meisterhafter Erzähler, und es ist schade, dass die letzte Ausgabe seines Romans (Auflage 7000), die 1988 im Rahmen der Reihe «Die Andere Bibliothek» erschien, nur noch antiquarisch erhältlich ist – damals war Hans Magnus Enzensberger noch der Herausgeber.

Werke von Rudolf Brunngraber
– Die Entwurzelten. 1928
– Karl und das zwanzigste Jahrhundert. Roman. 1933
– Radium. Roman eines Elements. 1936
– Die Engel in Atlantis. Roman. 1938
– Opiumkrieg. Roman. 1939
– Wie es kam. Psychologie des Dritten Reichs. 1946
– Irrelohe. Erzählung. 1947
– Prozess auf Tod und Leben. Roman. 1948
– Der Prozess. Filmdrehbuch. 1948
– Überwindung des Nihilismus. Essay. 1949
– Der Weg durch das Labyrinth. Roman. 1949
– April 200, (mit Ernst Marboe). Filmdrehbuch. 1950
– Der tönende Erdkreis. Roman der Funktechnik. Roman. 1951
– Heroin. Roman der Rauschgifte. Roman. 1952
– Zucker aus Cuba. Roman eines Goldrausches. Roman. 1954
– Fegefeuer. Roman. 1955
– Die Schlange im Paradies. Roman. 1958

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