Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 06/2022

Sehr viel von dem, was heute produziert wird, ist unnötig oder schädlich
von Paul Michel

«Der Kapitalismus ist eine gigantische energiefressende Maschine», sagt Hickel. «Wir müssen das wahnsinnige Tempo von Extraktion, Produktion und Abfall verlangsamen, genauso wie das wahnsinnige Tempo unseres Lebens …

Es geht darum, den Material- und Energiedurchfluss der Wirtschaft zu reduzieren, um ihn wieder in eine Balance mit der lebendigen Welt zu bringen, während gleichzeitig Einkommen und Ressourcen fairer verteilt, die Menschen von unnötiger Arbeit befreit und in öffentliche Güter investiert werden muss, die man für ein gutes Leben braucht.»

Das Kreuz mit der geplanten Obsoleszenz
Nehmen wir z.B. Haushaltsgeräte. Bei Kühlschränken, Waschmaschinen, Geschirrspülmaschinen und Mikrowellen beträgt die durchschnittliche Lebensdauer weniger als sieben Jahre, Das ist in der Regel nicht auf einen Systemfehler zurückzuführen, sondern auf kleine Geräteteile, die ganz einfach und zu geringen Kosten so konstruiert werden könnten, dass sie viele Jahre länger halten. Gleiches gilt für viele technische Geräte, die wir tagtäglich nutzen. Nehmen wir das Smartphone von Apple. Die Wachstumsstrategie der Firma sieht so aus: Nachdem die Geräte ein paar Jahre in Gebrauch sind, werden sie so langsam, dass sie keinen Wert mehr haben; Reparaturen sind entweder nicht möglich oder teuer.
Geplante Obsoleszenz ist ökologisch betrachtet purer Wahnsinn: Wahnsinn in bezug auf die Ressourcen, die auf diese Weise verschwendet werden, und Wahnsinn in bezug auf die unnötige Energie, die damit verbraucht wird. In einer rationalen Wirtschaft würden Unternehmen wie Apple langlebige, modulare Geräte entwickeln. Es wäre technologisch ohne weiteres möglich, die Lebensdauer solcher Geräte auf über 30 Jahre zu verlängern. Aber die Firmen verhindern ihre Entwicklung, weil sie möglichst hohe Stückzahlen verkaufen wollen.
Würden Waschmaschinen und Smartphones viermal länger halten als bisher, würden wir 75 Prozent weniger davon verbrauchen. Das brächte eine gewaltige Reduktion des Materialdurchsatzes, entsprechend weniger Rohstoff und Energieverbrauch – ohne irgendwelche negative Folgen für das Leben der Menschen. Wenn überhaupt, dann würde es sogar die Lebensqualität verbessern. Die Leute müssten sich nicht mit dem Frust und den Kosten herumschlagen, die das ständige Ersetzen ihrer Geräte mit sich bringt.

Werbung zurückfahren
Bis in die 1920er Jahre war Konsumieren eine vergleichsweise routinemäßige Angelegenheit. Die Leute kauften einfach, was sie brauchten. Werbeanzeigen dienten im wesentlichen der Information der Kunden über die nützlichen Eigenschaften des Produkts. Das änderte sich erst ab Ende der 20er Jahre in den USA.
Im Zeitalter des Internets ist Werbung im Vergleich zu den 50er Jahren deutlich mächtiger und heimtückischer geworden. Jeden Tag sind wir tausenden Anzeigen ausgesetzt, und mit jedem Jahr werden sie heimtückischer. Browser-Cookies, Social Media Profile und Big Data gestatten es den Firmen, uns maßgeschneiderte Werbung anzubieten, die nicht nur zu unserer Persönlichkeit passt – unseren speziellen Ängsten und Unsicherheiten –, sondern sogar zu der Gefühlslage, in der wir uns zu einem bestimmten Zeitpunkt befinden.
Manchmal vermischt sich Werbung mit der geplanten Obsoleszenz zu einem toxischen Cocktail, etwa in der Modeindustrie. Ziel der Werbung ist, die Leute davon zu überzeugen, dass ihre aktuelle Kleidung langweilig, veraltet und nicht adäquat ist. Konsequentester Ausdruck dessen ist die «Fast-Fashion»-Mode, Mode die eigentlich zum Wegwerfen gedacht ist.
In einer ökosozialistischen Gesellschaft hat Werbung keinen Platz. Stattdessen gäbe es Institutionen, die über Produkteigenschaften informieren und vielleicht ähnlich wie die Stiftung Warentest auch die Qualität von Produkten unterschiedlicher Hersteller miteinander vergleichen.
Im Kapitalismus gibt es durchaus Möglichkeiten, die Macht der Werbung einzuschränken. Durch entsprechende Gesetze könnte im öffentlichen Raum Plakatwerbung stark eingeschränkt und die Sendezeiten für Werbung im Fernsehen unterbunden werden.

Ökologisch schädliche Industrien herunterfahren
Hickel nennt einige Branchen, die deutlich zurückgefahren werden sollten, weil sie ökologisch schädlich und sozial nicht notwendig sind.
Als erstes nennt er die Rindfleischindustrie, er bezeichnet Fleisch als «eines der ressourcenineffizientesten Lebensmittel auf dem Planeten, bezogen auf die pro Kalorie und Nährstoff erforderliche Fläche und Energie». Aber auch in anderen Branchen sollte ein Degrowth stattfinden: «Man könnte etwa die Rüstungsindustrie und die Produktion von Privatjets herunterfahren. Man könnte die Produktion von Einwegplastik, Wegwerfbechern für Kaffee, SUVs und überdimensionierten Monstervillen in US-amerikanischen Städten reduzieren.»
Dem kann das Netzwerk Ökosozialismus nur zustimmen. Allerdings scheint bei Hickel in diesem Bereich vieles Stückwerk zu bleiben. Erforderlich wäre, dass gerade in den entwickelten Industriestaaten aus ökologischen Gründen einige wichtige Industriebranchen – Autoindustrie, chemische Industrie, Unterhaltungselektronik – heruntergefahren und andere – Werbung, Verpackungsindustrie, Rüstung – ganz gestrichen werden. Davon sind natürlich viele Industriearbeitsplätze betroffen. Wenn wir uns mit unseren Vorstellungen in der Gesellschaft nicht völlig isolieren wollen, müssen wir, Ökosozialist:innen und Befürworter:innen eines Degrowth, konkret und für Bevölkerungsmehrheiten verständlich und nachvollziehbar herausarbeiten, was das für die Menschen bedeutet, die bisher in diesen Branchen arbeiten.

Beispiel Autoindustrie
In der Bundesrepublik stellt sich das Problem besonders zugespitzt bei der Autoindustrie dar. Für eine klimagerechte Verkehrspolitik ist eine radikale Verkehrswende hin zum öffentlichen Verkehr mit Bus, Bahn und Straßenbahn erforderlich. Es werden deutlich weniger Pkw benötigt und aus ökologischen Gründen gilt, dass die Produktion von Autos drastisch verringert werden muss.
Zum Thema Konversion der Autoindustrie gibt das Anfang des Jahres im VSA-Verlag erschienene Buch Spurwechsel. Studien zu Mobilitätsindustrien, Beschäftigungspotentialen und alternativer Produktion wertvolle Anregungen. Und auf die Frage, was mit den Arbeitenden geschehen soll, deren Arbeitsplätze in der Autoindustrie entfallen, liefert Mario Candeias von der Rosa-Luxemburg-Stiftung eine verblüffende, aber sehr überzeugende Antwort: Eine echte Mobilitätswende benötigt außerordentlich viel Arbeitskraft.
Wenn aus der geschätzten Steigerung der Fahrgastzahlen bei Bahn und ÖPNV um den Faktor 2,5 etwas werden soll, würde das bei der Bahn- und Schienenfahrzeugindustrie 145000–235000 zusätzliche Arbeitsplätze, bei der E-Bus-Industrie 55000–60000 zusätzliche Arbeitsplätze und in der Fahrradindustrie 15000–18000 zusätzliche Arbeitsplätze bringen. Hinzu kämen die Arbeitsplätze, die geschaffen würden, wenn die Bahn von einer Börsenbahn in eine Bürgerbahn umgewandelt würde und der ÖPNV endlich den Service böte, der möglich und auch erforderlich ist, um deutlich größere Teile der Bevölkerung zu bewegen.
Durch eine Verkehrswende, die den Namen verdient, und eine Konversion der Autoindustrie hin zu einer Mobilitätsindustrie würden also mehr Arbeitsplätze entstehen als beim Rückbau der Autoindustrie entfallen würden.
Analoge Untersuchungen brauchen wir in anderen zentralen Industriebranchen: in der chemischen Industrie, der Verpackungsindustrie, im Finanzsektor, in der Stahlindustrie, Bauindustrie und so weiter.
Bisher haben sich Linke aller Schattierung nur wenig bis gar nicht damit befasst. Ohne einen Plan für einen grundlegenden ökosozialen Umbau und die Entwicklung konkreter Aktivitäten werden wir in breiteren Teilen der Bevölkerung jedoch keine Glaubwürdigkeit erlangen. Wenn wir differenzierte, fundierte Antworten schuldig bleiben, bleiben wir marginalisiert. Dieses Problem betrifft Ökosozialist:innen und Degrowth Bewegung gleichermaßen.
Das ist ein weiterer Grund dafür, dass wir uns viel stärker austauschen, bestehende inhaltliche Differenzieren solidarisch diskutieren und in konkreten Projekten stärker kooperieren sollten.

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