Tarifpolitik in Krieg und Krise
von J.H.Wassermann
Nach einem dreijährigen Abschluss 2019 stand in diesem Frühjahr die Tarifrunde zum Entgelt in der chemischen Industrie für rund 580000 Beschäftigte an.
Die Forderungen, die üblicherweise vom Hauptvorstand als «Empfehlung» vorgegeben werden, waren im wesentlichen: Erhöhung der Entgelte («dauerhafte Erhöhung der Kaufkraft») und Erhöhung der Nachtzuschläge (für die Zeit von 22 bis 6 Uhr) von 15 auf 25 Prozent.
In zwei Verhandlungsrunden sprach die Gewerkschaft IG BCE mit den Unternehmen. Am 4./5.April gab es einen Abschluss. Der wesentliche Inhalt ist:
– Die «eigentliche» Tarifrunde, also die Erhöhung der Löhne in der Tariftabelle, wird auf Oktober geschoben. Begründet wird das mit der wirtschaftlichen Unsicherheit angesichts des Ukrainekriegs. Der jetzige Tarifvertrag hat nur eine Laufzeit von sieben Monaten, auch wenn er etwas verschämt «Brückenlösung» genannt wird.
– Zum 31.Mai gibt es eine Einmalzahlung von 1400 Euro für alle Beschäftigten. In Betrieben, die «wirtschaftliche Schwierigkeiten» haben, kann sie durch eine Öffnungsklausel im Tarifvertrag auf 1000 Euro gesenkt werden.
– Die Nachtarbeitszuschläge werden von 15 auf 20 Prozent des Stundenentgelts erhöht.
– Außerdem wurden noch Verabredungen zur Flexibilisierung der Altersfreizeiten, zur Förderung bestimmter Auszubildender und zur «wissenschaftlichen Evaluierung» von «Homeoffice» getroffen.
Dieser Abschluss gilt für rund 580000 Beschäftigte in der Chemie- und Pharmaindustrie. Die Bedeutung liegt nicht nur in der Größe des Geltungsbereichs, sondern in einer möglichen Vorbildfunktion für die auch noch in diesem Jahr anstehenden Tarifrunden im Sozial- und Erziehungsdienst, in der Stahlindustrie und in der Metall- und Elektroindustrie.
Aber: Einmalzahlungen – selbst in akzeptabler Höhe – sind keine dauerhafte Tarifpolitik. «Brückenlösungen» müssen sich die Frage gefallen lassen: Wohin führt die Brücke? Im Moment führt sie ins Nichts, weil die Brücke nicht auf Dauer die Löhne gegen Inflation und die Spekulation der Kriegsgewinnler verteidigt.
Was tun?
Im kommenden Oktober beginnt die Tarifrunde in der chemischen Industrie also schon wieder. Sie läuft zeitlich parallel zur Tarifrunde in der Metall- und Elektroindustrie. Hier bietet sich eine Möglichkeit für Kolleg:innen, branchenübergreifend Zusammenarbeit aufzubauen. Gemeinsam sollten sowohl mögliche Forderungen als auch die gegenseitige Unterstützung bei Aktionen in den Tarifrunden diskutiert werden.
Es gab bislang in Deutschland weder eine Diskussion über eine automatische Anpassung der Löhne im Sinne einer sog. «gleitenden Lohnskala», sei sie staatlich verordnet oder tariflich vereinbart, noch gibt es eine Diskussion über das direkte Eingreifen des Staates in die Preisfestsetzung von Unternehmen. Es ist aber dringend notwendig, auf diesen beiden Gleisen die Diskussion in den Betrieben und Gewerkschaften und in der Gesellschaft zu beginnen.
Eine längere Fassung dieses Beitrags findet sich auf www.intersoz.org.
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