Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

Bert Brecht hielt nicht viel vom Recht auf geistiges Eigentum. Wir auch nicht. Wir stellen die SoZ kostenlos ins Netz, damit möglichst viele Menschen das darin enthaltene Wissen nutzen und weiterverbreiten. Das heißt jedoch nicht, dass dies nicht Arbeit sei, die honoriert werden muss, weil Menschen davon leben.

Hier können Sie jetzt Spenden
PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 06/2022

Warum sie gestrichen werden müssen, damit das Land wirtschaftlich wieder auf die Beine kommt
Interview mit Eric Toussaint*

Der Krieg bedeutet für die Ukraine auch eine enorme finanzielle Belastung. Die vielen Waffen, die der Westen großzügig zur Verfügung stellt, müssen ja bezahlt werden. Eine der Forderungen, die ukrainische Linke deshalb immer wieder vorbringen, betrifft die Streichung der Schulden der Ukraine.

Wie hoch sind die Schulden der Ukraine und wer sind die Hauptgläubiger?

Die privaten und öffentlichen Schulden der Ukraine im Ausland betragen zusammen rund 130 Milliarden Dollar, privat und öffentlich halten sich die Waage. Nach innen ist die ukrainische Regierung mit mehr als 40 Mrd. Dollar verschuldet, davon sind rund 20 Mrd. Dollar Staatsanleihen, mehr als 8 Mrd. Dollar betragen die Schulden an die Weltbank, die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung sowie die Europäische Investitionsbank. Die Gelder, die 2022 nach innen und nach außen zurückgezahlt werden müssten, sind enorm und angesichts der Kriegssituation untragbar.
Außerdem hat die Ukraine auch Schulden bei EU-Ländern sowie bei China und Russland (3 Mrd. Dollar). Seit Kriegsbeginn sind die öffentlichen Schulden des Landes enorm gestiegen, da der Internationale Währungsfonds und die Weltbank dem Land einen neuen Kredit von 5 Mrd. gewährt und auch andere Institutionen Notkredite eingeräumt haben. Sogenannte Kriegsanleihen machen weitere 2 Milliarden Dollar aus.

Wie kommen die Schulden zustande?

Bei ihrer Gründung 1991 erbte die Ukraine keinerlei Schulden von der Sowjetunion – das war also eine günstige Ausgangssituation. Im Zuge des brutalen kapitalistischen Wiederaufbaus plünderten die ukrainischen Bürokraten, die den Kapitalismus wiederherstellten, die Staatskasse.
Die Oligarchen wurden auf Kosten des Staatsvermögens außerordentlich reich – so wie auch in Russland, Belarus, Kasachstan, Tadschikistan usw., denn sie konnten mit Hilfe von Regierungsmitgliedern, die das zuließen, Staatseigentum für ganz wenig Geld erwerben. Zugleich wurden die reichsten Leute in der Ukraine kaum besteuert. Die Regierung machte also systematisch Schulden – auch bei Banken, die Oligarchen gegründet hatten. Während also die Oligarchen von allen möglichen Staatshilfen profitierten, verliehen sie wiederum Gelder an den Staat zu hohen Zinsen.

Hat die Regierung sich auch im Ausland verschuldet?

Ja. Sowohl über Anleihen als auch über Krediten bei ausländischen Banken sowie beim IWF und der Weltbank. Von 1990 bis in die 2000er Jahren stiegen die Schulden kontinuierlich. Der IWF stellte dabei Bedingungen. Es wurde die typische neoliberale Schocktherapie angewandt: Liberalisierung des Handels, Förderung des Außenhandels, Abschaffung der Preiskontrolle über lebenswichtige Rohstoffe und wichtige Konsumgüter, Abbau der öffentlichen Dienste. Der IWF förderte die schnelle Privatisierung staatlicher Unternehmen und machte immer weitergehende Auflagen für eine Reduzierung der Staatsschulden. Außerdem erhöhte der IWF die Unsicherheit auf dem Arbeitsmarkt, indem er dazu beitrug, dass es einfacher wurde, Leute im privaten und öffentlichen Sektor zu entlassen. Die Wirkung der Vorgaben des IWF war verheerend: Die Bevölkerung verarmte, 2015 war die Ukraine Schlusslicht in Europa, was die Höhe der Gehälter anbelangt.

Was tut die ukrainische Regierung nun?

Statt die Begleichung der Schulden aufzuheben, um die Bedürfnisse der Bevölkerung zu erfüllen und die feindliche Aggression abzuwehren, behält die ukrainische Regierung in purer neoliberaler Art die Rückzahlung der Schulden bei – ausgenommen die russischen Schulden. Die Lage ist daher ziemlich ernst. Die Regierung sollte die Rückzahlung der Schulden aufheben – stattdessen ist sie entschlossen, in den Augen der internationalen Finanzmärkte und verschiedener Geldgeber glaubwürdig zu bleiben.
Außerdem borgt diese Regierung mehr Geld: Sie legt Kriegsanleihen auf, die auf den Finanzmärkten verkauft werden und bittet um Kredite beim IWF, bei der Weltbank, der Europäischen Bank für Wiederaufbau und der Europäischen Investitionsbank sowie bei bilateralen Geldgebern. Dabei setzt sie die neoliberale Sparpolitik fort mit dem Argument, dass außerordentliche Maßnahmen notwendig sind, um der russischen Invasion standzuhalten.
Die Regierung hat angeordnet, dass Beschäftigte länger arbeiten müssen und weniger Urlaub nehmen dürfen, und sie hat den Unternehmern die Entlassung von Beschäftigten mitten im Krieg erleichtert.
Ich denke, dass man die Politik der aktuellen Regierung anprangern muss. Wir sollten eine ganz andere Strategie einschlagen: Die Zahlung der Schulden einstellen, das Land fragen, wo die Besitztümer der ukrainischen Oligarchen zu finden sind, um diese zu enteignen und den Ukrainern zurückzugeben.
Natürlich ist es auch notwendig, die russischen Oligarchen zu enteignen und die Erlöse davon für den Wiederaufbau der Ukraine unter der Kontrolle der sozialen Bewegungen zu verwenden. Der Klassenkampf setzt sich im Krieg fort. Leider bereichern sich die ukrainischen Oligarchen nach wie vor schamlos. Die ukrainische Regierung sollte eine Kriegssteuer für das reichste ein Prozent einführen, um Geld für den Krieg zu haben. Eine Überprüfung der Schulden sollte unter Beteiligung der Bürger durchgeführt werden – denn diese sind so hoch, dass es unvorstellbar ist, die Verantwortlichen dafür nicht beim Namen zu nennen.

*Eric Toussaint ist Sprecher des CADTM (Komitee zur Streichung der illegitimen Schulden). Das Interview wurde geführt von cadtm.org.

Teile diesen Beitrag:
Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen

Spenden

Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF


Schnupperausgabe

Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.