Für eine sachliche Diskussion zur Militärpolitik – eine Replik
von Manuel Kellner und Michael Heldt
Betr.: «Wenn die Entwaffnung der Herrschenden so einfach wäre», SoZ 5/2022, S.20
In ihrer Antwort auf unseren Beitrag zur Militärpolitik erwähnt Angela Klein, dass sich Friedrich Engels auch mal für das Milizsystem als Alternative zu den stehenden Heeren ausgesprochen hat. Das ist ein wenig irreführend.
Tatsächlich ist die Losung vom «Volk in Waffen» in der Geschichte der revolutionären sozialistischen Bewegung des 19. und des 20.Jahrhunderts insgesamt tief verankert. Es wäre besser, das anzuerkennen, damit ein gemeinsamer Ausgangspunkt für unsere Diskussion gewonnen wird.
Im Erfurter Programm der Sozialdemokratie von 1891 findet sich unter den demokratischen Sofortforderungen: «Erziehung zur allgemeinen Wehrhaftigkeit. Volkswehr an Stelle der stehenden Heere.» In den späteren Programmen des 20.Jahrhunderts, dem Görlitzer Programm, dem Heidelberger Programm und selbstredend im Godesberger Programm ist das verschwunden. Warum? Bessere Einsicht? Nein, weil sich die Sozialdemokratie nach rechts entwickelt hatte.
Im programmatischen, von Rosa Luxemburg verfassten Text Was will der Spartakusbund vom Dezember 1918 steht: «Bewaffnung der gesamten erwachsenen männlichen proletarischen Bevölkerung als Arbeitermiliz, Bildung einer Roten Garde aus Proletariern als aktiven Teil der Miliz zum ständigen Schutz der Revolution vor gegenrevolutionären Anschlägen und Zettelungen.» Dasselbe sagt auch das Programm der frisch gegründeten KPD von 1919. O.K., das Adjektiv «männlich» streichen wir gerne.
Aus der Fülle der einschlägigen Zitate von Rosa Luxemburg hier nur eins: «Die Rüstungen sind eine fatale Konsequenz der kapitalistischen Entwicklung, und dieser Weg führt in den Abgrund. Wir haben ein ganz anderes Ziel zu verfolgen, das uns klar und deutlich unsre historische Aufgabe stellt, das Milizwesen, die Bewaffnung des Volkes, wie sie unser Programm verlangt.» Der Kampf gegen den Militarismus war immer eng verbunden mit Kampf um die Abschaffung der kasernierten Heere, erst recht der Berufsarmeen.
Im April 1917, als er erfährt, dass in Russland im Bezirk Kanawino in 16 Betrieben mit über 30000 Beschäftigten eine «von den Kapitalisten bezahlte Arbeitermiliz» geschaffen wurde, freut sich Lenin sehr und schlägt vor, dieses Beispiel überall aufzugreifen. Nebenbei erinnert er an die programmatische Tradition: «Das Minimalprogramm der Sozialdemokratie fordert die Ersetzung des stehenden Heeres durch die allgemeine Bewaffnung des Volkes. Aber die Mehrheit der offiziellen Sozialdemokraten in Europa … hat das Parteiprogramm ‹vergessen›…»
Ein militärpolitisches Programm
Machen wir einen Sprung ins 20.Jahrhundert zur Gruppe Internationale Marxisten (GIM, damals Sektion der IV. Internationale, also Vorläuferin unserer heutigen Internationalen Sozialistischen Organisation, der ISO). Im Jahr 1976 veröffentlichte sie ihr «militärpolitisches Programm» (Die Revolutionäre und die Armee). Da steht geschrieben: «Weiterhin muss nicht nur gegen jeden Schritt in Richtung Berufsarmee gekämpft werden, sondern auch für eine Verallgemeinerung der Wehrpflicht. Das Schweizer Modell kann dabei propagandistisch als Orientierung dienen, wenngleich es nicht idealisiert werden darf … Trotzdem ist bei dieser Art Miliz, bei der der Wehrdienst nur auf die Ausbildung beschränkt ist und nach dieser Zeit die persönliche Ausrüstung und die leichten Waffen von jedem Wehrpflichtigen zu Hause gelagert werden, der Kontakt der Soldaten zur Arbeiterklasse sehr viel weniger unterbrochen.» Angela Klein aber fallen zur Schweiz nur die Berge ein, die wir hier nicht hätten.
Die polemischen Seitenhiebe von Angela (unsere Position sei «aus der Zeit gefallen» und «aus jeder Zeit gefallen», wir würden Politik durch Waffen ersetzen wollen usw.) sollten einem sachlichen und solidarischen Diskussionsstil weichen. Nicht unsere Position ist irgendwie exotisch, sondern die des militärpolitischen Programms der GIM wurde nie revidiert oder kritisch diskutiert.
Und jetzt ziert gar die erzpazifistische Losung «Die Waffen nieder» das Cover der jüngsten Ausgabe der Internationale, einer Zeitschrift der ISO. Um zu sagen, die Bevölkerung eines überfallenen Landes hätte kein Recht sich zu wehren?
Die neue Popularität der Aufrüstungsprogramme und der NATO, die begründete Angst vor einem dritten Weltkrieg, die äußerst geringe Glaubwürdigkeit der Friedensbewegung zwingt uns, über die militärpolitischen Alternativen zur Politik der Herrschenden ernsthaft nachzudenken. Das war der Zweck unseres Diskussionsbeitrags. Der wird verfehlt mit sinnlosen zänkischen Unterstellungen.
Was ist heute neu? Was setzt heute unsere früheren Positionen außer Kraft? Wir wollen es wissen! Die Massenvernichtungsmittel, die Atomwaffe? Aber die gab es doch auch schon 1976. Hätten wir dem Vietcong in der ersten Hälfte der 70er Jahre sagen sollen: «Die Waffen nieder! Die USA hat die Atomwaffe! Seid ihr noch bei Trost?» Das ist nur ein Beispiel von vielen. Das Nachbeten der pazifistischen Glaubenssätze führt weg von allen revolutionären Überzeugungen.
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