Krieg und Frieden auf dem Weltsozialforum in Mexiko
von Leo Gabriel
Es war ein langer Weg zum diesjährigen Weltsozialforum (WSF), das vom 1. bis 6.Mai in Mexiko-Stadt stattfand – und anscheinend war er derart beschwerlich, dass es die meisten Europäer vorzogen, das WSF, wenn überhaupt, von der bequemen Stube aus auf den Bildschirmen des hauseigenen Laptops zu verfolgen.
Als hätten sie geahnt, dass das große Durcheinander vor Ort in ein beispielloses Chaos münden würde, in dem niemand so recht wusste, wann und wo die über vierhundert angemeldeten Veranstaltungen stattfinden würden.
Teilweise war das Chaos darauf zurückzuführen, dass die mexikanische Stadtverwaltung erst im allerletzten Moment die im historischen Stadtzentrum angesiedelten Räumlichkeiten zur Verfügung stellten, und auch das mexikanische Außenministerium leistete keinerlei Hilfe bei der Zuteilung von Visa an Teilnehmer:innen aus Afrika, Asien und Brasilien.
Zum größten Teil aber lag die Verantwortung bei den Organisator:innen des Megaevents, eine kleine Gruppe von etwa einem Dutzend ehrenamtlicher Mitarbeiter:innen, die die gesamte Information zentralistisch verwalteten und am Ende dem plötzlich auftauchenden Ansturm von Fragen und Rückfragen, Vorschlägen und Gegenvorschlägen nicht gewachsen waren.
Dazu kam, dass es bereits im Vorfeld zu Auseinandersetzungen gekommen war, die den politischen Nerf des WSF betrafen: Während die hauptsächlich aus Brasilien stammenden Gründerväter und -mütter an der sog. «Charta von Porto Alegre» festhielten, die es den teilnehmenden Organisationen und deren Vertreter:innen streng untersagte, im Namen des WSF in der Öffentlichkeit aufzutreten, hatte sich im Laufe der Vorbereitungen eine namhafte Gruppe von sog. «Erneuerern» (spanisch: Renovadores) gebildet, die die Auffassung vertraten, dass es in Zeiten wie diesen nicht mehr genüge, sich entlang gewisser Themenkreise auszutauschen, sondern dass es notwendig sei, ein weltweites Netz von sozialen, ökologischen und friedenspolitischen Bewegungen zu schaffen, die in der Lage wären, auf globaler Ebene im Namen des WSF auch politisch zu handeln.
Wie tief diese Spaltung innerhalb des WSF ging, zeigte sich auch auf der abschließenden Sitzung des Internationalen Rats in Mexiko, als die aus Belgien stammende Sozialwissenschafterin Francine Mestrum vom Centre Tricontinental (CETRI) vorschlug, angesichts des Krieges in der Ukraine alle Kriege namens des WSF zu verurteilen. Nach einer dreistündigen Debatte wurde dieser Vorschlag mit der Begründung abgelehnt, das WSF als solches dürfe keine Erklärungen abgeben, nur einzelne Organisationen.
Im Dialog
Dabei war die mit dem Ukrainekrieg in Verbindung stehenden Problematik auf diesem 14.Weltsozialforum in Mexiko durchaus präsent. Neben den Konflikten in und um Palästina, der Westsahara und den zahlreichen Kriegsschauplätzen in Afrika wurden auch die militärischen Repressionen der verschiedenen Flüchtlingswellen in Europa und Mittelamerika thematisiert, wobei die «Erneuerer» zusammen mit dem International Peace Bureau, der ältesten auch in Deutschland stark vertretenen Friedensbewegung, im Hinblick auf den NATO-Gipfel Ende Juni in Madrid eine Erklärung unter dem Titel «Universelle Abrüstung für eine sozialökologische Transformation» verabschiedete.
Die größte Außenwirkung aber erzielte die Fortsetzung eines Friedensdialogs in und um die Ukraine. Ein solcher Dialog hatte bereits beim Weltsozialforum 2016 in Tunis zwischen Vertreter:innen der damals in ihrer Heimat in Ungnade gefallenen Antikriegsbewegung aus Kiew und Vertreter:innen von Gewerkschaften aus dem Donbass stattgefunden. Auch diesmal waren zwei Frauen aus Kiew, Nina Potarska und Natalija Weselowska, eigens zum WSF eingeflogen. Der Gründer eines Friedensnetzwerks, Juri Scheliashenkol, konnte nur online an dem Gespräch teilnehmen, da es Männern zwischen 18 und 60 Jahren bekanntlich verboten ist, das Land zu verlassen. Auf der anderen Seite des Panels saßen Andrei Kotschetow, ein Gewerkschaftsführer aus Lugansk, und Andrei Kolganow, ein Vertreter des russischen Sozialforums, das zeitgleich mit dem WSF in St.Petersburg stattfand.
Bereits in ihren Eingangsstatements tauchten interessante friedenspolitische Vorschläge auf: Juri z.B. erwähnte Gruppen von Kriegsdienstverweigerern, die sich in verschiedenen Landesteilen gebildet hatten, während Kotschetow seiner Erleichterung darüber Ausdruck verlieh, dass jetzt die Front nicht mehr ein paar hundert Meter von seinem Haus verläuft, sondern 100 Kilometer weit weg.
Als allerdings Kolganow die geopolitischen Rahmenbedingungen wie z.B. die NATO-Osterweiterung abhandelte, platzte Nina Potorska der Kragen: «Ich fühle mich hier wie auf einem anderen Planeten; hier wird immer nur davon geredet, wer schuld an diesem Krieg hat. Die einen verteidigen die eine Seite und die anderen die andere, um diesen Krieg zu erklären und zu rechtfertigen. Bei mir zu Hause ist das längst kein Thema mehr. Alles was die Menschen in den Luftschutzkellern wollen, ist, dass diese Hölle, in der wir uns befinden, endlich aufhört.»
Auch hier war und ist es noch zu früh (oder zu spät), um über konkrete Verhandlungsvorschläge zu sprechen, wie sie etwa die «Erneuerer» im WSF ins Treffen geführt haben: Neutralität der Ukraine, eine Verfassunggebende Versammlung, die allen Regionen, aber insbesondere dem Donbass das Recht auf Selbstbestimmung gewährt, und eine neue europäische Sicherheitsordnung unter Einschluss Russlands. Die Teilnehmer:innen an diesem Dialoggespräch waren sich jedenfalls darüber einig, dass eine politische Lösung erst dann gefunden werden kann, wenn es in der Ukraine einen Waffenstillstand gibt.
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