Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

Bert Brecht hielt nicht viel vom Recht auf geistiges Eigentum. Wir auch nicht. Wir stellen die SoZ kostenlos ins Netz, damit möglichst viele Menschen das darin enthaltene Wissen nutzen und weiterverbreiten. Das heißt jedoch nicht, dass dies nicht Arbeit sei, die honoriert werden muss, weil Menschen davon leben.

Hier können Sie jetzt Spenden
PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 06/2022

Antifaschismus ist ein dringendes Gebot
Gespräch mit Christine Poupin

Jean-Luc Mélenchon ist zu den Parlamentswahlen im Juni erneut eine Koalition mit der sozialliberalen Linken eingegangen.
Die SoZ sprach mit Christine Poupin, Sprecherin der Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA).

Welche sozialen Milieus haben in den beiden Runden der Präsidentschaftswahlen jeweils für France Insoumise (FI) bzw. Le Pen gestimmt? Wo hat Mélenchon seine besten Ergebnisse erzielt?

Die Präsidentschaftswahlen haben das politische Feld neu geordnet. Es zeichnen sich nunmehr drei Blöcken ab: Macron, der seit fünf Jahren an der Macht ist, verkörpert eine neoliberale, autoritäre Politik, die von den herrschenden Klassen klar unterstützt wird, von den unteren Klassen jedoch heftig und massiv abgelehnt wird. Zwar hat die Wahlenthaltung weiter zugenommen, doch die Stimmen gegen Macron haben sich stark polarisiert zwischen einer weiterhin wachsenden extremen Rechten, die weitgehend von Rassemblement National (RN, die Partei Marine Le Pens) dominiert wird, obwohl mit Eric Zemmour ein noch enthemmterer Kandidat angetreten ist, und dem sozialen Block, der sich um die Kandidatur Mélenchons versammelt hat. Seine Union Populaire wird ganz klar zur dominierenden Kraft auf der Linken, die einen Bruch anstrebt.
Seit den Präsidentschaftswahlen 2017 hat Mélenchon unter Arbeitern und Angestellten mit jeweils 25 und 27 Prozent der Stimmen etwas zugelegt, aber Le Pen liegt mit jeweils 35 und 33 Prozent deutlich vor ihm. Schlimmer noch: Alle rechtsextremen Stimmen zusammengenommen kommen in diesem Milieu auf schreckeinflößende 44 bzw. 42 Prozent!
In den Schichten, die weniger als 900 Euro verdienen, liegt Mélenchon mit 34 Prozent vor allen anderen Kandidaten, auch vor Le Pen, die hier nur 26 Prozent holt. Aber schon im Segment zwischen 900 und 1300 Euro kehrt sich der Trend um: 25 Prozent für Mélenchon gegenüber 28 Prozent für Le Pen.
Die Klassenzugehörigkeit ist jedoch nicht alles. Je nachdem, wo man lebt, sind die Unterschiede sehr groß. Mélenchon führt mit sehr guten Ergebnissen in den Großstädten und ihren Vororten, in Arbeitervierteln, unter Einwanderern und insbesondere bei jungen Menschen. Sie sind auf eine intensive Mobilisierung von antirassistischen Aktivist:innen und auf Mélenchons Kehrtwende in Sachen Islamophobie zurückzuführen: Glücklicherweise hat er sich klar gegen das «Separatismusgesetz», gegen Repression und autoritäre Politik ausgesprochen. In ländlicheren Gebieten, kleineren Gemeinden, wirtschaftlich depressiven Gebieten, wo es kaum noch öffentliche Dienstleistungen gibt, schart sich die Wut über Vernachlässigung und Deklassierung um die extreme Rechte.

Wenn man alle Stimmen der Linken zusammenzählt, selbst ohne die der Sozialistischen Partei, hätte Mélenchon im ersten Wahlgang Le Pen weit hinter sich gelassen und wäre im zweiten Wahlgang gegen Macron angetreten. Das wäre eine ganz andere Wahl gewesen als die, die wir jetzt gesehen haben – und es ist nicht einmal unmöglich, dass Mélenchon gewonnen hätte. Die NPA hat sich jedoch dafür entschieden, einen eigenen Kandidaten aufzustellen. Ist das nicht eine sehr große Verantwortung?

Du hast vollkommen recht. Auf dem Papier hätte die Addition aller linken Stimmen Mélenchon im ersten Wahlgang an die Spitze gebracht. Weniger als 424000 Stimmen trennten ihnn von Le Pen. Hätte sich die Kommunistische Partei (PCF) wie 2017 in eine Linksfront mit Mélenchon begeben, hätten die 800000 Stimmen, die sie holte, Mélenchon den Einzug in die zweite Runde ermöglicht. Ihre Kampagne hat zwar sehr stark die sozialen Probleme ansprach, war aber in Fragen der Sicherheit und der Identität sehr reaktionär.
In der NPA habe ich eine «Kampagne ohne Kandidaten» vorgeschlagen. Mélenchon hatte am ehesten Chancen, im zweiten Wahlgang anzutreten, und seine Kandidatur wurde daher auf dem Feld der Wahlen als die nützlichste für eine positive Verschiebung der Kräfteverhältnisse begriffen. Der Nutzen der NPA zur Schaffung der bestmöglicher Bedingungen für die Zukunft lag daher nicht in ihrer Selbstbestätigung durch eine Kandidatu. Stattdessen hätten wir während der gesamten Wahlperiode eine gemeinsame politische Kampagne mit Aktivist:innen führen sollen, die eine antikapitalistische Kraft für ein neues Transformationsprojekt aufbauen wollen.
Hätte Mélenchon in der zweiten Runde gegen Macron antreten können, wäre die Lage viel besser gewesen, auch bei ungewissem Ausgang. Die Wahl zwischen «vote qui pue» und «vote qui tue» (einer Stimme, die stinkt, und einer Stimme, die tötet) wäre uns erspart geblieben. So haben es sehr viele Wähler:innen gesehen, die sich aufgrund der Umfragen noch kurz vor der Wahl entschlossen haben, für Mélenchon zu stimmen. Der Kandidat der NPA, Philippe Poutou, hat Mélenchon nur sehr wenig Stimmen weggenommen, sein Wahlergebnis war bescheiden und ein Großteil seiner Wähler:innen hätte eh nicht Mélenchon gewählt.

Mélenchon hat ein sehr breites Wahlbündnis für die Parlamentswahlen vorgeschlagen. Was ist der Inhalt dieses Bündnisses? Welchen Platz würde die NPA darin einnehmen?

Der Bündnisvorschlag der Union Populaire war eine ausgezeichnete Nachricht, eine positive Überraschung, die im Gegensatz zur Haltung von FI vor fünf Jahren stand. Die NPA hat den Vorschlag zunächst stark unterstützt. Es sollte auf Wahlebene ein Block zwischen Union Populaire, Europe Écologie-Les Verts (EELV), der PCF und der NPA gebildet werden, um den beiden anderen Blöcken entgegenzutreten. Die inhaltliche Grundlage sollten die zentralen Punkte des Programms L’Avenir en Commun sein: Beibehaltung der Rente mit 60, Anhebung des Mindestlohns, Abschaffung der freiheitsfeindlichen Gesetze und der Gesetze zur Zerstörung des Arbeitsrechts, die von den Regierungen Hollande und Macron verabschiedet worden waren…
Zunächst schloss dieses Abkommen die Sozialistische Partei (PS) aus, aber sie wurde dann wieder ins Spiel gebracht und im Lauf der Diskussionen hat sich das politische Gleichgewicht verschoben: Der Bruch mit der liberalen Politik, der die anfängliche Stärke des Wahlbündnisses ausmachte, verblasste allmählich. Hinzu kommt, dass der PS eine große Zahl von Wahlkreisen zugesprochen wurden und umgekehrt für die NPA wie auch für Kandidaturen aus kämpferischen Kollektiven, insbesondere aus Arbeitervierteln, nur wenig Platz übrig blieb. Die NPA ist zur Ansicht gelangt, dass es einen Kipppunkt gegeben hat, an dem die Union Populaire sich dafür entschieden hat, eher mit der PS zusammenzugehen als einen Pol aufzubauen, der klar mit der sozialliberalen Politik bricht. Die Erhöhung des Mindestlohns soll nicht mehr «sofort» erfolgen, der Bruch mit dem liberalen Europa ist sehr vage formuliert, das «Recht auf Rente mit 60» ersetzt «Rente mit 60 für alle»…

Ist das nicht eine Wiederauflage der Union de la Gauche, die ihr so lange kritisiert habt? Es scheint, dass Mélenchon nicht zögert, Premierminister unter Macron zu werden. Was können wir von einer solchen Konstellation erwarten?

Die Aufholjagd der PS macht die Nouvelle Union Populaire Écologique et Sociale (NUPES) noch nicht zum Äquivalenten der Union de la Gauche (Linksunion). Die dominierende Kraft in dem Bündnis, die den Ton angibt und die meisten Abgeordneten stellen wird, ist FI, die eindeutig antiliberal ist. Wenn man eine Analogie bemühen will, ist es eher das linke Nein zum Europäischen Verfassungsvertrag, das sich neu formiert. Darüber hinaus vertieft das Abkommen mit FI die Krise innerhalb der EÉLV und mehr noch innerhalb der PS, da Schwergewichte wie François Hollande die Partei verlassen.
Das Kräfteverhältnis zwischen der sozialliberalen Linken und einer Linken, die den gesellschaftlichen Aufbruch will, ist also trotz aller Grenzen und Kritik, die man an dem Wahlbündnis jetzt üben kann und muss, grundlegend anders als das innerhalb der damaligen Union de la Gauche und später der Gauche plurielle. Vor allem aber befinden wir uns in einer globalen politischen Situation, die eine Einheitsfront, eine politische und soziale Front gegen die Bedrohung durch die extreme Rechte dringend erforderlich macht, es liegt ein Wettlauf mit der extremen Rechten vor uns. Le Pen hat fast drei Millionen Stimmen mehr geholt als vor fünf Jahren. Monatelang haben die Themen und Diskurse der extremen Rechten die öffentliche Debatte geprägt und einen großen Teil des politischen Feldes vergiftet. Antifaschismus ist ein dringendes Gebot. Auch wenn Le Pen bei dieser Wahl verhindert werden konnte, ist klar, dass fünf weitere Jahre Macron die RN nur stärken werden…

Wird diese Konstellation den sozialen Bewegungen Auftrieb geben?

Das ist die einzig richtige Frage und unsere einzige Chance!
Die Ergebnisse der Parlamentswahlen werden schwer wiegen. Wenn Macron eine Mehrheit bekommt, werden sich seine Angriffe verdoppeln, das Programm ist angekündigt, angefangen bei der Anhebung des Renteneintrittsalters. Und selbst wenn es eine Mehrheit für die NUPES gäbe (auch wenn das nicht das wahrscheinlichste Szenario ist), würde uns das nicht «das Demonstrieren ersparen», wie Mélenchon vor einigen Monaten sagte. Man kann (und muss) den Personenkult rund um Mélenchon und sein «Ich schlage vor, dass Sie mich zum Premierminister wählen» verabscheuungswürdig finden, aber es ist eine Möglichkeit, die Dynamik, die bei den Präsidentschaftswahlen aufgebaut wurde, auf die Parlamentswahlen auszudehnen und klar zu machen, was bei diesen Wahlen auf dem Spiel steht.
Einheit befördert neue Mobilisierung, und es liegt an den Antikapitalisten, sie aufzubauen und in ihr einen Inhalt wachsen zu lassen, der begeistert, der Lust macht!

Teile diesen Beitrag:
1 Kommentar
  • 03.06.2022 um 00:22 Uhr, Margret Aichele sagt:

    Danke für die Info. Ich glaube, dass es für Europa wichtig ist, wer in Frankreich an der Regierung ist. Und es ist erschreckend wie Le Pen dazu gewonnen hat!


Spenden

Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF


Schnupperausgabe

Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.