Vorstellung des neuen Bestsellers von Jason Hickel
von Paul Michel
Jason Hickel ist Anthropologe. Er lehrt an der London School of Economics und ist einer der bekanntesten Protagonisten der Degrowth-Strömung (Postwachstumsströmung). Er schreibt regelmäßig für Zeitungen wie The Guardian über Themen wie globale Ungerechtigkeit, Postwachstum und ökologisches Wirtschaften. Eines seiner Bücher ist The Divide. A Brief Guide to Global Inequality and its Solutions (2017).
Sein neustes Buch Less is more erschien Ende Februar 2021 auf deutsch unter dem Titel Weniger ist mehr im Oekom-Verlag. Wir widmen dem Buch einen Schwerpunkt, weil wir Hickels Gedanken, die sich zwischen Postwachstum und Ökosozialismus bewegen, aber auch seine konkret formulierten Handlungsoptionen für äußerst diskussionswürdig halten. Im englischsprachigen Raum ist er einer der wichtigsten Stichwortgeber der Klimagerechtigkeitsbewegung.
Jason Hickel: Weniger ist mehr. Warum der Kapitalismus den Planeten zerstört und wir ohne Wachstum glücklicher sind. München: Oekom, 2022. 348 S., 24 Euro
Jason Hickel ist einer der Protagonisten der Degrowth-Bewegung. Sein im März auf deutsch erschienenes Buch ist nicht nur anschaulich geschrieben, es ist darüber hinaus geeignet, einem alten, aber oft sehr im allgemeinen verbleibenden Slogan der Antiglobalisierungsbewegung mehr Gehalt und Substanz zu geben: «Eine andere Welt ist möglich».
Hickel rückt einige Themen in den Fokus, die bisher von der ökosozialistischen Bewegung eher oberflächlich behandelt wurden. Sein Buch kann uns dabei helfen, unsere Vorstellungen von einer ökologischen, demokratischen, sozial gerechten Gesellschaft zu konkretisieren.
Hickel liefert Ansatzpunkte für ein konkreteres Bild der von uns angestrebten Gesellschaft, die ohne Wachstumszwang auskommt und dennoch der Mehrheit der Menschen ein «Buen Vivir», einen guten Lebensstandard und höhere Lebensqualität ermöglicht. Jedenfalls ist er keiner von denen, die meinen, die Welt werde über den Inhalt des Einkaufswagens im Supermarkt, also den individuellen Konsum, entscheidend verändert. «Wenn wir das Anthropozän überleben wollen, müssen wir den Kapitalismus hinter uns lassen», schreibt er.
Postwachstum und Ökosozialismus
Seine Alternative ist nicht der Kommunismus, das betont er, doch es gibt in vielen Bereichen Gemeinsamkeiten zwischen Vertreter:innen des Degrowth und Ökosozialist:innen.
Die folgenden Texte sollen einen Beitrag dazu zu leisten, dass auch hierzulande zwischen beiden Strömungen ein intensiverer Austausch und eine stärkere Kooperation stattfinden. Im angelsächsischen Raum scheint das bereits der Fall zu sein. Darauf deutet ein von Vertreter:innen beider Strömungen gezeichneter Text hin, der in der Aprilausgabe der renommierten linken Monatszeitschrift Monthly Review erschienen ist und den wir für diese Ausgabe übersetzt haben.
Das Ausmaß der aktuellen Umweltkrise ist in der Geschichte der Menschheit beispiellos. Auf dem Spiel stehen die menschliche Zivilisation und Milliarden von Menschenleben. Hickels Buch beginnt mit einer eindrücklichen Darstellung der ökologischen Belastungsgrenzen der Erde. Erdsystemwissenschaftler:innen identifizieren neun potenziell destabilisierende «planetaren Belastungsgrenzen»: Klimawandel, Biodiversitätsverlust, Versauerung der Ozeane, Landnutzungsänderungen, Stickstoff- und Phosphoreintrag, Süßwasserverbrauch, atmosphärische Aerosolbelastung, chemische Verschmutzung und stratosphärischer Ozonabbau. Verantwortlich für deren Überdehnung ist das Streben nach fortwährendem Wirtschaftswachstum. Es geht einher mit ständig steigendem Rohstoffverbrauch und der industriellen Produktion von immer mehr Waren. Jede Tonne Material, die aus der Erde geholt wird, bedeutet mehr Tagebaubetrieb mit all der damit verbundenen, nachgelagerten Umweltverschmutzung, und mehr Lkw, Schiffe oder Flugzeuge für den Weitertransport, die ihrerseits mehr Energie brauchen und die Umwelt zerstören.
Im Unterschied zu anderen Klimaschützer:innen lässt Hickel keinen Zweifel daran, dass für die ökologischen Verwerfungen der Kapitalismus verantwortlich ist. «Was den Kapitalismus von den meisten anderen Wirtschaftssystemen in der Geschichte unterscheidet, ist, dass er um einen ‹strukturellen Imperativ› einer stetigen Ausweitung des Wachstums organisiert ist: Jede Branche, jeder Sektor, jede nationale Wirtschaft muss wachsen, die ganze Zeit, ohne dass irgendein Endpunkt auszumachen wäre. Der Kapitalismus ist das erste und einzige Wirtschaftssystem in der Geschichte der Menschheit, das eine ständige Expansion erfordert. Das Ziel kapitalistischen Wachstums ist nicht die Befriedigung konkreter menschlicher Bedürfnisse, sondern jedes Jahr mehr Kapital zu erzeugen und mehr Gewinn anzuhäufen als im Vorjahr.»
Degrowth auch für den globalen Süden?
Hickel legt Wert auf die Feststellung: Am Entstehen der Klimakatastrophe sind nicht alle Menschen in gleichem Maße beteiligt. Das Problem sind die Länder mit hohen Einkommen, die Industrieländer des globalen Nordens. Es sind diese Länder, die den größten Beitrag zum Klimakollaps leisten. Angesichts ihrer größeren Verantwortung für die CO2 -Emissionen der zurückliegenden Jahre müssen die Industrieländer des Nordens auch die Hauptlast der Maßnahmen zur Vermeidung eines Klimakollapses tragen.
Die systematische Plünderung der Kolonien spielte beim Aufstieg des europäischen Kapitalismus eine Schlüsselrolle. Sie ist dafür verantwortlich, dass viele Länder Afrikas und Asiens in ihrer Entwicklung weit zurückgeworfen wurden. Vor ein paar hundert Jahren gab es kaum Unterschiede in der Wirtschaftsleistung und dem «Lebensstandard» pro Kopf zwischen Europa und verschiedenen anderen Regionen der Welt. Doch in der Zeit des Kolonialismus brach der Anteil des Südens an der weltweiten Güterproduktion ein, von 77 Prozent im Jahr 1750 auf 13 Prozent um 1900.
Es besteht kein Zweifel, dass heutzutage in vielen Ländern des globalen Südens ein großer Bedarf an «Entwicklung» besteht. Das geht nicht ohne Wachstum. Aber die Frage ist: Welcher Art? Um eine Kopie des Standardmodells der kapitalistischen Metropolen mit den Säulen Produktivismus und Wegwerfgesellschaft einschließlich der Zurichtung vieler Länder des globalen Südens als exportorientierte Rohstoff- und Nahrungsmittellieferanten kann es nicht gehen. Es geht darum, die Wirtschaft um die Bedürfnisse der Menschen zu organisieren, um Investitionen in Sozialpolitik, in Gesundheitsversorgung, in Bildung, Wasserversorgung und Wohnraum. Es braucht eine Landreform, die Kleinbauern den Zugang zu den Ressourcen verschafft, die sie für eine ökologisch nachhaltige Produktion brauchen.
Hickel ist der Überzeugung, «dass es für die Länder des globalen Südens möglich ist, gute Werte bei jedem Indikator für menschliche Entwicklung zu erreichen (einschließlich Lebenserwartung, Wohlbefinden, sanitäre Maßnahmen, Einkommen, Elektrizität, Beschäftigung und Demokratie) und dabei innerhalb der planetaren Grenzen zu bleiben».
Bei den notwendigen Strukturreformen sollten sich die Länder des Südens an der Politik fortschrittlicher Kräfte aus der Zeit der Entkolonialisierung orientieren. Dort, wo zwischen 1950 und 1970 eine Politik betrieben wurde, die auf Zölle und Subventionen zur Förderung der einheimischen Industrie, auf anständige Löhne und auf eine progressive Verteilung des nationalen Einkommens setzte, habe es «ein Wunder im Süden» gegeben. Die Wirtschaft wuchs deutlich und der neue Wohlstand wurde gerechter verteilt. Hickel empfiehlt deshalb den Menschen im globalen Süden, sich bei den nötigen Strukturreformen an der Politik von linken Wegbereitern wie Patrice Lumumba (Kongo), Julius Nyerere (Tansania) oder Thomas Sankara (Burkina Faso) zu orientieren. Sie alle, so Hickel, bestanden auf einer auf den Menschen konzentrierten Ökonomie, mit Betonung auf den Prinzipien Gerechtigkeit, Wohlbefinden und Selbstversorgung.
Auch wenn Ökosozialist:innen Hickels vorbehaltslose Begeisterung für die oben beschriebene Entwicklungsstrategie und die Politik der Importsubstitution nicht teilen: Die Schnittmengen mit Ökosozialist:innen dürfte groß sein.
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