Gemeinschaftliches Wohnen und die Eigentumsfrage
von Gisela Notz
Gemeinschaftliches Wohnen und selbstorganisiertes Bauen. (Hrsg. Andrej Holm, Christoph Laimer) Wien: TU Wien AcademicPress, 2021. 257 S., 19,50 Euro
Viele Wohnungen fehlen, es wird viel gebaut, und viel am Bedarf vorbei. Wie Menschen wohnen und leben wollen, das haben Andrej Holm und Christoph Laimer in ihrem neuen Buch über gemeinschaftliches Wohnen und selbstorganisiertes Bauen ermittelt. Gisela Notz hat es für uns gelesen.
«20000 neue Wohnungen jedes Jahr, das ist unser Ziel», das hat die Berliner Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) in ihrer Neujahrsansprache 2022 als politisches Ziel definiert. Davon sollen 5000 Sozialwohnungen sein. Beim Bauen setzt sie auf ein enges Bündnis mit der privaten Immobilienwirtschaft. Zur Frage, ob gemeinschaftliche Lebensformen Nutznießer der Wohnungen sein werden, ist wenig gesagt. Man muss den anschließend formulierten Koalitionsvertrag schon gründlich lesen, um herauszufinden, dass «die landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften … neue, gemeinschaftliche Wohnformen … besonders berücksichtigen» werden.
Tatsächlich sprechen heute viele Menschen vom gemeinschaftlichem Wohnen und selbstorganisiertem Bauen. Verwirklicht wird beides jedoch nur von wenigen. Selbstorganisiertes und gemeinschaftliches Wohnen sind in Zürich, Wien und Berlin trotz zahlreicher Projekte immer noch eine Nische am Wohnungsmarkt. Das stellt Christoph Laimer fest, der neben Andrej Holm das Buch Neues soziales Wohnen herausgegeben hat, das im Rahmen eines Forschungsprojekts der TU Wien entstand.
Hat man die verschiedenen theoretischen und praktischen Beiträge, einschließlich der Interviews zur Kenntnis genommen, wundert man sich, wieso die meisten Häuser und Wohnungen immer noch am familistischen¹ Modell der heteronormativen² Kleinfamilie, die am liebsten «unter sich» sein will, orientiert sind. Man wundert sich auch, warum selbst manche Wohnprojekte in individuelles «Eigentum» und nicht in Gemeinschaftseigentum übergehen. «Eigentum zerstört langfristig das Gemeinschaftsleben», so die These der Wohngenossenschafterin und Aktivistin Ute Fragner. Die Eigentumsfrage steht daher neben der Frage der Gemeinschaft im Mittelpunkt der meisten im vorliegenden Buch versammelten Artikel.
Das Buch untergliedert sich in drei Hauptteile: I.Geschichtliches, II.Konzeptionen, III.Perspektiven und Aspekte. Die 14 Artikel, die hier nicht einzeln behandelt werden können, sind von Wissenschaftler:innen aus verschiedenen Disziplinen, Architekt:innen, Stadtforscher:innen, Berater:innen und Aktivist:innen geschrieben, die zum Teil selbst gemeinschaftlich wohnen oder selbstorganisiert gebaut haben, jedenfalls über vielfältige Kenntnisse und Erfahrungen verfügen, die sie einem breiten Leserkreis in theoretischen Beiträgen und anhand praktischer Beispiele nahebringen. Ergänzt werden die Beiträge durch ein Interview mit der Architektin Gabu Heindl über ihre Erfahrung mit gemeinschaftlichen Planungsprozessen, deren Konkretisierung und deren Potenziale, sowie durch ein Gespräch über gemeinschaftliches Bauen und Wohnen.
Dabei geht es um konkrete Wohnprojekte in Wien, Zürich und Berlin. Das Glossar am Ende des Buches erklärt Begriffe zum gemeinschaftlichen Bauen und Wohnen und verleiht dem Buch einen Handbuchcharakter.
Alle Autor:innen messen «Gemeinschaft» und gemeinschaftlichem Planen einen hohen Stellenwert bei, dazu gehören auch Fragen wie Wohnflächenverbrauch, bezahlbare Mieten, ökologische und soziale Nachhaltigkeit, die Möglichkeit flexibler Sozialbeziehungen und solidarisches und politisches Handeln, Selbstbestimmung, Selbstorganisation, Diversität der Nutzer:innen und Heterogenität bei Alter, Herkunftsland und Liebesbeziehungen. Bei manchen Projekten hat man den Eindruck, dass die Ansprüche sehr hochgestochen sind.
Keine neue Erfindung
Dass Arbeiter:innen seit Beginn der Industrialisierung, nach dem Verfall des heute glorifizierten, hierarchisch strukturierten «ganzen Hauses» Gemeinschaftsprojekte mit bezahlbarem Wohnraum schafften, lernen wir aus den ersten beiden Beiträgen. Diese Gemeinschaftsprojekte hatten ihre Blütezeit zur Zeit der Weimarer Republik. Während der konservativen Familienpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg wurden sie jedoch kaum mehr realisiert oder diskutiert. Erst in den 70er und 80er Jahren besannen sich Menschen auf die alte Tradition und wollten wieder aus der familistischen Enge mit der geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung ausbrechen. Dazu eigneten sich die Neubauwohnungen der 50er und 60er Jahre, die auf die konventionelle Kleinfamilie zugeschnitten waren, nicht.
Wiederentdeckt wurden von den zahlreichen Wohngemeinschaften Altbauwohnungen mit größeren Zimmern und mehr Raum. Weil trotz des herrschenden Wohnraummangels viele von ihnen zum Abriss vorgesehen waren, führte dies zu Protesten und Hausbesetzungen, nicht nur in Berlin. Seitdem entstanden Häuser mit Gemeinschaftsküchen, Werkstätten und «Möglichkeitsräumen», die verschieden «bespielt» werden können. Neben der Bewegung der selbstverwalteten Wohn- und Arbeitsprojekte der 70er Jahre war es die Hausbesetzer:innenbewegung zu Beginn der 80er Jahre, die zur Ausbreitung der selbstverwalteten Wohnprojekte beigetragen hat.
Interessant ist hierzu der Bericht über die ambivalente Politik des seit 1981 von der CDU geführten Berliner Senats: Während über Legalisierungen der Instandbesetzer:innen verhandelt wurde, kam es immer wieder zu polizeilichen Räumungen. Alternative Modelle wurden jedoch auch mit «Staatsknete» gefördert, eine Diskussion, die in ihrer damaligen Relevanz vergessen ist und auch als «Befriedung» oder «Aufstandsbekämpfung» betrachtet werden kann, das ist heute wieder lehrreich.
Das Buch führt viele Beispiele für unterschiedliche Projekte mit unterschiedlichen Eigentums-, Finanzierungs-, Planungs- und Bewirtschaftungsmodellen und Rechtsformen vor, die in Berlin, Wien, Zürich, Freiburg, aber auch außerhalb von Metropolen entstanden. Neben Mietshäuser Syndikat, habiTAT, den Stiftungen trias und Edith Maryon stehen Genossenschaftsmodelle im Mittelpunkt.
Was ist Eigentum?
Nahezu alle Autor:innen weisen auf die Bedeutung der Vergemeinschaftung von Grundbesitz und Wohnraum hin, damit sie dem Markt entzogen und ohne Gewinnstreben bewirtschaftet werden. Einige Artikel widmen sich der Enteignungsdebatte, die in Berlin hohe Wogen schlägt. Sabine Horlitz spricht in ihrem Text über marktferne Eigentumsmodelle sogar von einer Renaissance der Eigentumsfrage in der kritischen Stadtforschung. Demokratietheoretische Probleme, die eine Konzentration von Eigentum hervorrufen, stünden im Mittelpunkt vieler Debatten. Das ist sicher erfreulich.
Was aussteht, ist die Vermittlung eines anderen Rechts- und Eigentumsverständnisses bei den Nutzer:innen von Immobilien und Wohnungen. Schließlich sind in Deutschland Status und Ansehen in der Gesellschaft daran gebunden, dass jemand Eigentum hat. Die Tatsache, dass gemeinsames Eigentum auch Eigentum ist, scheinen viele Menschen nicht zu begreifen. Das sei kein Wunder, meint Sabine Nuss, «wenn aber etwas ‹meins› ist, ist es zugleich nicht ‹deins›». Eigentum sei keine Sache, «sondern ein soziales Verhältnis zwischen Menschen bezüglich einer Sache». So erleben wir täglich, dass Obdachlose und Geflüchtete auf der Straße oder in Lagern leben müssen, während in unmittelbarer Nähe Häuser und Wohnungen leer stehen, weil sie Eigentum anderer sind.
Nuss verweist darauf, dass das mit Gemeineigentum ebenso passieren kann, sieht aber den Unterschied, dass hier (bspw. in einer Genossenschaft) eine Gruppe das mit dem Eigentum verbundene Ausschlussrecht hat, nicht eine einzelne Person. Die Gruppe (das Kollektiv) kann gemeinsam darüber entscheiden, wie hoch die Mieten sein sollen, und ob und unter welchen Bedingungen weitere Genoss:innen einsteigen können. Sie können auch soziale Ungleichheit durch interne Umverteilung kompensieren. Zusätzliche Rendite kann kein Genosse abschöpfen, die Wohnung meistbietend verkaufen auch nicht.
Am besten gelingt Gemeinschaft dann, wenn ein gemeinsames politisches Grundverständnis vorhanden ist, wie es meist bei Kommunen oder den Häusern des Mietshäusersyndikats der Fall ist. Politische Projekte werden auch die Welt außerhalb des eigenen Wohnprojekts mitdenken. Viele Menschen verzichten bereits heute auf großen Wohnraum und auf individuelles Eigentum, gewinnen jedoch durch das Teilen mit anderen vieles, das sie für sich allein gar nicht haben könnten. Dass diese Einsicht wirkmächtig wird, dazu kann das Buch in jeder Hinsicht wertvolle Hinweise geben.
¹Familismus beschreibt Familie als Leitform einer Sozialstruktur.
²Heteronormativ beschreibt eine Weltanschauung und ein gesellschaftliches Wertesystem, das nur zwei Geschlechter und heterosexuelle Beziehungen zwischen diesen Geschlechtern anerkennt und als normal ansieht.
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