Plädoyer für einen ökosozialistischen Degrowth
aus Monthly Review
Der nachfolgende Text wurde von Vertreter:innen der Degrowth-Bewegung und von Ökosozialist:innen gemeinsam erstellt. Er erschien in der Aprilausgabe des linken US-amerikanischen Monatsmagazins Monthly Review. Wir danken Monthly Review für die Erlaubnis zur Veröffentlichung des Textes.
Degrowth bezeichnet eine Verringerung von Konsum und Produktion und hat das Wohlergehen aller zum Ziel. Degrowth und Ökosozialismus sind zwei der wichtigsten Bewegungen auf der radikalen Seite des ökologischen Spektrums. Sicher, nicht alle in der Degrowth-Community bezeichnet sich als Sozialisten, und nicht jeder Ökosozialist ist von der Wünschbarkeit von Degrowth überzeugt. Aber man kann eine zunehmende Tendenz zu gegenseitigem Respekt und Annäherung feststellen. Wir wollen hier die großen Bereiche der Übereinstimmung zwischen uns nachvollziehen und einige Hauptargumente für ein ökosozialistisches Degrowth vorstellen:
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Kapitalismus kann ohne Wachstum nicht existieren. Er braucht eine permanente Ausweitung von Produktion und Konsum, der Kapitalakkumulation und der Profitmaximierung. Dieser Prozess eines unbegrenzten Wachstums, der seit dem 18.Jahrhundert auf der Grundlage der Ausbeutung fossiler Brennstoffe anhält, führt zu einer ökologischen Katastrophe, Klimawandel und droht das Leben auf dem Planeten auszulöschen. Die 26 UN-Klimakonferenzen der letzten 30 Jahre zeigen den absoluten Unwillen der herrschenden Eliten, den Kurs in Richtung Abgrund aufzuhalten.
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Jede echte Alternative zu dieser perversen und destruktiven Dynamik muss radikal sein – d.h. sie muss sich mit den Wurzeln des Problems befassen: dem kapitalistischen System, seiner ausbeuterischen und extraktiven Dynamik und seinem blinden und obsessiven Streben nach Wachstum. Ökosozialistischer Degrowth, in direkter Konfrontation mit Kapitalismus und Wachstum, ist die Alternative dazu. Ökosozialistischer Degrowth umfasst die gesellschaftliche Aneignung der wichtigsten (Re-)Produktionsmittel und eine demokratische, partizipative, ökologische Planung. Die Hauptentscheidungen hinsichtlich der Prioritäten von Produktion und Konsum werden von den Menschen selbst getroffen, mit dem Ziel, echte soziale Bedürfnisse zu befriedigen und gleichzeitig die ökologischen Grenzen des Planeten zu respektieren. Das bedeutet, dass Menschen auf verschiedenen Ebenen direkt auf demokratische Weise darüber bestimmen, was, wie und wieviel produziert werden soll; wie man verschiedene Arten von produktiven und reproduktiven Aktivitäten entlohnt, die uns und den Planeten erhalten. Um Wohlergehen und Gerechtigkeit für alle zu erreichen, brauchen wir kein Wirtschaftswachstum, sondern eine radikale Änderung der Art und Weise, wie wir die Wirtschaft organisieren und den gesellschaftlichen Reichtum verteilen.
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Ein Degrowth beträchtlichen Ausmaßes in Produktion und Konsum ist ökologisch unverzichtbar. Die erste und dringendste Maßnahme ist der Ausstieg aus fossilen Brennstoffen und aus dem verschwenderischen, statusgetriebenen Konsum der reichen Elite. Aus ökosozialistischer Sicht ist Degrowth dialektisch zu verstehen: Viele Bereiche der Produktion (z.B. Kohlekraftwerke) und Dienstleistungen (z.B. Werbung) müssen nicht nur reduziert, sondern ganz abgeschafft werden. Einige, wie private Autos oder Viehzucht, sollten erheblich reduziert werden; andere Bereiche hingegen müssen entwickelt werden, wie die agroökologische Landwirtschaft, erneuerbare Energien, Gesundheits- und Bildungsdienste und so weiter. Für Sektoren wie Gesundheit und Bildung sollte diese Entwicklung in erster Linie qualitativer Natur sein. Selbst die nützlichsten Aktivitäten müssen die Grenzen des Planeten respektieren; so etwas wie eine «unbegrenzte» Produktion von Gütern kann es nicht geben.
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Ein produktivistischer «Sozialismus», wie er von der UdSSR praktiziert wurde, ist eine Sackgasse. Dasselbe gilt für den «grünen» Kapitalismus, wie er von Konzernen oder etablierten «grünen Parteien» befürwortet wird. Ökosozialistisches Degrowth ist ein Versuch, die Grenzen vergangener sozialistischer und «grüner» Experimente zu überwinden.
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Es ist allgemein bekannt, dass der globale Norden historisch gesehen für die meisten Kohlendioxidemissionen in die Atmosphäre verantwortlich ist. Die reichen Länder müssen daher den größeren Teil des Degrowth-Prozesses übernehmen. Gleichzeitig glauben wir nicht, dass der globale Süden versuchen sollte, das produktivistische und destruktive «Entwicklungs»modell des Nordens zu kopieren, sondern stattdessen nach einem anderen Ansatz suchen sollte, der sich an den wahren Bedürfnisse der Bevölkerung in bezug auf Nahrung, Wohnung und Grundversorgung orientiert, anstatt immer mehr Rohstoffe (und fossile Brennstoffe) für den kapitalistischen Weltmarkt zu fördern oder immer mehr Autos für die privilegierten Minderheiten zu produzieren.
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Ökosozialistischer Degrowth beinhaltet auch die Abkehr von bestehenden Konsummodellen durch einen Prozess demokratischer Meinungsbildung – zum Beispiel ein Ende geplanter Obsoleszenz und nicht reparierbarer Güter. Aber auch von bestehenden Transportmustern, indem beispielsweise der Transport von Gütern per Schiff und Lkw (durch die Verlagerung der Produktion) sowie der Flugverkehr stark reduziert werden. Kurz gesagt, es ist viel mehr als eine Änderung der Eigentumsformen, es ist eine zivilisatorische Transformation, eine neue «Lebensweise», die auf Werten wie Solidarität, Demokratie, Gleichheit und Respekt für die Erde basiert. Ökosozialistischer Degrowth signalisiert eine neue Zivilisation, die mit Produktivismus und Konsumismus bricht, zugunsten kürzerer Arbeitszeiten und damit mehr Spielraum für soziale, politische, Freizeit-, künstlerische, spielerische und erotische Aktivitäten.
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Ökosozialistischer Degrowth kann nur durch eine Konfrontation mit der fossilen Oligarchie und den herrschenden Klassen erreicht werden, die die politische und wirtschaftliche Macht innehaben. Wer ist in diesem Kampf das politische Subjekt? Wir können das System nicht ohne die aktive Beteiligung der städtischen und ländlichen Arbeiterklasse überwinden, die die Mehrheit der Bevölkerung ausmachen und Hauptleidtragende der durch den Kapitalismus hervorgerufenen sozialen und ökologischen Verwerfungen sind. Aber wir müssen die Definition der Arbeiterklasse erweitern, um auch diejenigen mit einzubeziehen, die die soziale und ökologische Reproduktion tragen, die Kräfte, die jetzt an der Spitze sozialökologischer Mobilisierungen stehen: die Jugend, Frauen, indigene Völker und Bauern. Durch den Prozess der Selbstorganisation und des aktiven Widerstands der Ausgebeuteten und Unterdrückten wird ein neues soziales und ökologisches Bewusstsein entstehen.
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Ökosozialistischer Degrowth ist Teil eines breiteren Spektrums anderer radikaler, antisystemischer ökologischer Bewegungen: Ökofeminismus, soziale Ökologie, Sumak Kawsay (das indigene «gute Leben»), Umweltschutz der Armen, Blockadia, Green New Deal (in seinen kritischeren Versionen), und vieler anderer. Wir streben keine Vorrangstellung an – wir denken nur, dass Ökosozialismus und Degrowth neben diesen Bewegungen einen gemeinsamen starken diagnostischen und prognostischen Rahmen zu bieten haben. Dialog und gemeinsames Handeln sind in der gegenwärtigen dramatischen Lage dringende Aufgaben.
Bengi Akbulut, Professor an der Concordia University, Montréal
Sabrina Fernandes, Ökosozialistin, Postdoktorandin bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung
Giorgos Kallis, Autor von The Case for Degrowth (Polity, 2020)
Michael Löwy, Autor von Ecosocialism
Quelle: https://monthlyreview.org/2022/04/01/for-an-ecosocialist-degrowth/
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