Der Gipfel in Madrid und das „Neue strategische Konzept“ der NATO
von Jaime Pastor, 2.7.2022
Nach dem äußerst kostspieligen und patriarchalischen Spektakel eines Gipfels zum größeren Ruhm von Joseph Biden und Pedro Sánchez ist die wichtigste Schlussfolgerung, die wir ziehen müssen, dass die NATO in ihrem alten Projekt, sich zum Weltpolizisten im Dienst des westlichen kapitalistischen Blocks aufzuschwingen, nun auch formell einen weiteren Schritt nach vorn gemacht hat.
Ihr "Neues strategisches Konzept" beinhaltet eine neue Definition ihrer Feinde und der Bedrohungen, denen sie sich ausgesetzt sieht, die viel weiter ist, als die, die 1949 zu ihrer Gründung führte, und die, die in den als "zweiter Kalter Krieg" bezeichneten 1980er Jahren galt.
Nun wird nicht nur der nach dem 11. September 2001 begonnene weltweite Krieg gegen den "Terrorismus in all seinen Formen und Ausdrucksweisen" fortgeführt, sondern Russland wird, nach einer Unterbrechung im Jahr 2010, wieder als "die größte und unmittelbarste Bedrohung für die Sicherheit“ dargestellt. China wird mittel- und langfristig als "strategischer Konkurrent" auf allen Gebieten betrachtet (da es "systemische Herausforderungen" für "unsere Interessen, Sicherheit und Werte" mit sich bringe), und vor allem wird die "illegale Einwanderung" als "Bedrohung" für die "Souveränität und territoriale Integrität" der Mitgliedstaaten bezeichnet. Zu denen werden auch schon die neuen Kandidaten Finnland und Schweden gezählt, sofern sie die Forderungen des türkischen Regimes, eines weiteren Gewinners dieses Gipfels, zum Nachteil der kurdischen Bewohner ihrer Länder akzeptieren.
Als wäre das alles nicht genug, wird in dem Dokument mehrfach erwähnt, dass "autoritäre Akteure", "strategische Konkurrenten" und "potenzielle Gegner" auf "Strategien der hybriden Kriegsführung" zurückgreifen - darunter "Desinformationskampagnen, die Instrumentalisierung der Einwanderung, die Manipulation der Energieversorgung und die Anwendung von wirtschaftlichem Zwang" - und dass "Konflikte, Fragilität und Instabilität in Afrika und im Nahen Osten unsere Sicherheit und die unserer Partner direkt beeinflussen."
In dem vereinbarten Dokument wird nicht einmal verschwiegen, dass es sich bei dem angeblich "defensiven" Charakter des Bündnisses um reine Rhetorik handelt: "Auch wenn die NATO ein Verteidigungsbündnis ist, sollte niemand an unserer Stärke und unserer Entschlossenheit zweifeln, jeden Zentimeter des Bündnisgebiets zu verteidigen, die Souveränität und territoriale Integrität aller Bündnispartner zu wahren und gegen jeden Aggressor zu bestehen". Und das, wo die NATO zudem bekräftigt, dass Atomwaffen ihre "höchste Sicherheitsgarantie" sind.
Ganz im Einklang mit dieser allgemeinen Militarisierung und der Tatsache, dass der europäische Raum durch die Verstärkung der US-Präsenz in Osteuropa und die Aufstockung der schnellen Eingreiftruppe von 40 000 auf 300 000 Soldaten besonders „privilegiert“ wird, erscheint die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, ihre Militärausgaben auf mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen, jetzt nur als "Untergrenze, nicht als Obergrenze", wie Generalsekretär Jens Stoltenberg versicherte. Diese Ausgabenvorhaben werden dazu dienen, die Gewinne des altbekannten militärisch-industriellen Komplexes zu erhöhen, den schon der frühere US-Präsident Eisenhower angeprangert hat, und das Wettrüsten, einschließlich des atomaren Wettrüstens, auf globaler Ebene wieder in Gang zu setzen. Kurzum, mit dem Alibi der russischen Invasion in die Ukraine ist es den USA gelungen, die Auswirkungen der in Afghanistan erlittenen Niederlage sehr schnell vergessen zu machen, jeden Anflug von Autonomie der Europäischen Union zu vereiteln und die große Mehrheit der europäischen Länder zu treuen Dienern des Projekts zu machen, ihre Hegemonie gegenüber ihren wichtigsten strategischen Feinden - kurzfristig Russland und mittel- und langfristig China -, neu in Stellung zu bringen, aber auch gegen alles, was eine Bedrohung ihrer (eng mit der Verteidigung des westlichen weißen Suprematismus verbundenen) geo-ökonomischen und politischen Interessen in irgendeinem Teil der Welt darstellen könnte.
Im Falle Spaniens wird dieses neue bellizistische Szenario vom sozialistischen Ministerpräsidenten Pedro Sánchez euphorisch begrüßt, der sich beeilt hat, seinem amerikanischen Freund mit der "Gemeinsamen Erklärung des Königreichs Spanien und der Vereinigten Staaten von Amerika" erneut seine Unterwürfigkeit zu beweisen. In dieser Erklärung bekräftigen beide Staatsmänner, neben unverbindlichen Erklärungen zur "Verteidigung der Demokratie", dass sie "Verbündete, strategische Partner und Freunde" sind und vereinbaren die "ständige Stationierung von US-Kriegsschiffen in [der spanischen Marinebasis] Rota", womit die Zahl der US-Kriegsschiffe von vier auf sechs erhöht wird. Hinzu kommt ihre gemeinsame Bereitschaft, bei der "Steuerung der irregulären Migrationsströme", d.h. bei der Migrations-Nekropolitik, zusammenzuarbeiten - einer Aufgabe wiederum, die sie ihrem gemeinsamen Freund, dem marokkanischen Regime, übertragen, das vor kurzem noch für das brutale Massaker in Melilla verantwortlich war, bei dem elementarste Menschenrechte verletzt wurden, und, das dürfen wir nicht vergessen, dessen Komplizen bei der illegalen Besatzung der Westsahara sie sind.
Auf dem Weg zu einer stärker militarisierten und unsicheren globalen (Un-)Ordnung
Diese unverhohlene Proklamation der NATO als Offensivmacht, sowohl in Richtung Osten als auch Süden und mit Blick auf den geopolitischen Schlüsselraum Asien-Pazifik, ist nicht neu, aber jetzt steht sie im allgemeinen Kontext einer definitiven Krise der kapitalistischen Globalisierung und verstärkter innerimperialistischer Konkurrenz auf fast allen Gebieten, mit der Tendenz zur Bildung neuer Handels- und Militärblöcke.
Wir erleben so den Übergang zu einer neuen multipolaren und asymmetrischen globalen (Un-)Ordnung, die die zentrale Stellung des Westens in Frage stellt, auch wenn der Westen entschlossen ist, sie mit allen Mitteln zu verteidigen, die ihm zur Verfügung stehen, vermehrter Rückgriff auf militärische Gewalt von nun an inbegriffen. Diese neue Phase findet im Kontext einer "Polykrise" statt, die viele Herausforderungen mit sich bringt, die durch den Krieg in der Ukraine beschleunigt und verschärft wurden. Dazu gehören die Klima- und die Energiekrise, die Nahrungsmittelkrisen in immer mehr Ländern und die daraus erwachsenden Migrationsströme, die Stagflation und die drohende Rezession, die Aussicht auf eine neue globale Schuldenkrise, die Möglichkeit einer neuen Welle von Pandemien und Krisen des Gesundheits- und Pflegesystems und nicht zuletzt die Gefahr einer militärischen Eskalation, die zum Atomkrieg führt.
Diese Reihe von Krisen wird dazu beitragen, die derzeitigen autoritären Neoliberalismen zu stärken (unter denen die Grenze zwischen Liberalen und Illiberalen zunehmend aufweicht - die Türkei, Ungarn und Polen dienen als Beispiele), die mit Protesten und Revolten unterschiedlicher Ausprägung konfrontiert sind und unter dem Druck einer extremen Rechten stehen, die in vielen zentralen Ländern die Tagesordnung mitbestimmen kann. Man darf sich also nicht von der jetzt wieder in Mode gekommenen Propaganda derer täuschen lassen, die - Putin sei Dank - sich bemühen, die NATO als Bollwerk der Demokratie gegen den Autoritarismus darzustellen, und die versuchen, uns die Geschichte dieser militärischen Organisation und vor allem die Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika vergessen zu machen.
Mit ihrem "Neuen strategischen Konzept" vergrößert und verschärft die NATO nur die vielfältigen Krisen und die Ungleichheiten aller Art, mit denen wir bereits vor dem nicht zu rechtfertigenden und verdammenswerten russischen Unterwerfungskrieg gegen die Ukraine konfrontiert waren, und fügt sie nun in den Rahmen der wachsenden Drohung, gegen die endlose Liste von Feinden und Gefahren auf militärische Gewalt zurückzugreifen.
Für einen internationalistischen und solidarischen Antiimperialismus
"Die europäische Bewegung für nukleare Abrüstung will kein Appeasement, sie will niemanden beschwichtigen und auch nichts vergessen. Ihr Vorschlag lautet, sich der Militarisierung beider Blöcke entgegenzustellen". (Edward P. Thompson, Zero Option, London: Merlin Press 1982).
Auch wenn wir uns heute gegen den Mainstream der westlichen öffentlichen Meinung und des Großteils der institutionellen Linken stellen, gibt es für die alternative Linke allen Grund, die auf dem Madrider Gipfel beschlossene neue westliche imperialistische Strategie und die reale Bedrohung, die sie für die Völker der Welt darstellt, rundheraus anzuprangern. Diese Anprangerung steht überhaupt nicht im Widerspruch zur Verurteilung der russischen Invasion und zur Unterstützung des ukrainischen Volkes in seinem legitimen Recht auf Selbstverteidigung mit und ohne Waffen, ohne dass man sich deshalb mit dem pro-atlantischen Diskurs ihres Führers Selenskyj identifizieren muss.
Jenseits des neu aufgewärmten Lagerdenkens (Neo-Campismus) der einen und der neuen Liebe zur NATO (Neo-Atlantizismus) der anderen sollte unsere Aufgabe immer darin liegen, die Unterstützung für die angegriffenen Völker und für alle Menschen, die ihr Recht auf Zuflucht und Asyl oder einfach ein menschenwürdiges Leben in Anspruch nehmen, in den Vordergrund zu rücken, unabhängig von ihrer Herkunft oder ihren Lebensumständen. Nur so werden wir in der Lage sein, eine transnationale Bewegung aufzubauen, die in der Lage ist, der NATO und allen Imperialismen - ob erst- oder zweitrangig – die Stirn zu bieten und eine Alternative zum militaristischen Sicherheitskonzept zu schmieden, das sie alle teilen und das sie alle in den geopolitischen Räumen, in denen sie ihre Vorherrschaft auszubauen versuchen, anwenden.
Dieser verengten Sichtweise, die im Dienste ihrer jeweiligen Eigeninteressen steht, sollten wir eine mehrdimensionale Idee von globaler Sicherheit entgegensetzen, die Antworten auf die oben genannten Krisen geben kann, indem sie angesichts der chronischen globalen Notlage die Verteidigung des Lebens und der öffentlichen Güter und des Gemeinwohls in ihr Zentrum stellt. Und wir wissen, dass Letzteres mit dem Fortbestehen des Kapitalismus in all seinen Ausprägungen, der westlichen, der östlichen oder der im Süden unvereinbar ist.
Und die Linke?
Abschließend gesagt halte ich es nicht für nötig, hier lange auf all das einzugehen, was das für den spanischen Fall bedeutet, aber eines springt doch ins Auge: Die Anlehnung von Pedro Sánchez an den Führer der amerikanischen Großmacht und sein kriegstreiberischer Diskurs kennen keine Grenzen mehr. Dies hat er auf dem Gipfel mit seiner Zusicherung, die spanische Militärausgaben zu verdoppeln, und seiner Zustimmung zur Verstärkung des Stützpunkts Rota eindrucksvoll bewiesen. Diesen Entscheidungen gingen in jüngster Zeit empörende Auftritte voraus wie etwa die Haltung, die der spanische Ministerpräsident gegenüber dem saharauischen Volk bezogen hat, oder seine Komplizenschaft beim Massaker an Menschen aus dem Sudan, dem Tschad und anderen afrikanischen Ländern in Melilla.
Es kann also kaum ein Zweifel daran bestehen, dass die PSOE in ihrem offen ausgebrochenen Wettstreit mit der Partido Popular von Alberto Núnez Feijóo im Kampf um die extreme Mitte weiter nach rechts rückt, wobei beide Parteien auf ihre Weise einer zunehmend neoliberalen, rassistischen und militaristischen Agenda folgen.
Angesichts dieser Rechtsdrift und des wachsenden Unbehagens, das sie möglicherweise in der Gesellschaft hervorruft, ist es wahrscheinlich, dass die Politikverdrossenheit in den unteren Volksklassen zunehmen wird, aber auch, dass es zu Unzufriedenheit kommt, die sich in neuen Mobilisierungen Ausdruck verschafft. Die Frage ist, in welche Richtung sich die neuen Proteste entwickeln werden, wenn man bedenkt, dass der 15M-Podemos-Zyklus definitiv abgeschlossen ist und zumindest auf nationaler Ebene links von der PSOE ein enormes politisches Vakuum besteht. Es ist daher dringend nötig, einen Prozess der Neubildung und Neuzusammensetzung einer alternativen und autonomen Linken einzuleiten, die in Opposition zu dieser Regierung und wiederum in ständiger Konfrontation mit den Parteien der Rechten steht. Eine Linke, die bereit ist, gemeinsam mit den aktivsten Sektoren der sozialen Bewegungen eine neue Welle von Mobilisierungen zu fördern und dazu beizutragen, diesen eine anti-neoliberale und radikal demokratische Ausrichtung zu geben.
Jaime Pastor, langjähriges führendes Mitglied der Vierten Internationale im spanischen Staat, ist Politikwissenschaftler, Mitglied von Anticapitalistas und Herausgeber von Viento Sur.
Aus dem Spansischen von H.L. (Quelle: https://vientosur.info/84657-2/)
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