Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 07/2022

34 Geschichten vom Leben mit der Arbeit
von Wolfgang Hien

Spuren der Arbeit. Geschichten von Jobs und Widerstand (Hrsg. Mark Richter u.a.) Berlin: Die Buchmacherei, 2021 257 S., 14 Euro

Dieses Buch ist ein Hammer – ein Hammer auf den Amboss versteinerter Sprachlosigkeit über himmelschreiende Arbeits- und Lebensverhältnisse der Arbeiter:innenklasse. Es ist kein Buch über die Vergangenheit, es ist ein Buch über die Jetztzeit.

In 34 Geschichten – ursprünglich als Onlineblog der Industrial Workers of the World (IWW) erschienen – erzählen Menschen von ihrer Arbeit und vor allem von dem, was die Arbeit mit ihnen, mit ihrem Leben macht, was für Schäden die Arbeit an Körper und Geist anrichtet. Junge und Mittelältere, Frauen, Männer, queere Menschen, überwiegend People of Color in den USA und Kanada, viele mit Studienabschluss, aber ohne Chance auf einen dauerhaften Job, der ihrer Qualifikation entspricht, führen die Leser:innen in eine Welt, die in mehrfachem Sinne dem in der Regel besser situierten, linksliberalen deutschen Publikum fremd ist.
Zum einen kommen hier Aspekte der Lohnarbeit im Kapitalismus zur Sprache, die oft vergessen, verleugnet oder verdrängt werden: 13-Stunden-Schichten, krasse Hierarchien, Kommandotöne, Drangsalierung, andauernde Entwürdigung, Beleidigung, Bedrohung, Rechtlosigkeit, Rassismus, sexuelle Diskriminierung und unfassliche sexuelle Übergriffigkeit. Entfremdung wird konkret fassbar, auch die Gewaltförmigkeit der Lohnarbeit.
Berichtet wird von der Arbeit in der Industrie, am Fließband, an Maschinen, im Krankenhaus, in Altenheimen, im Sozialbereich, in der Landwirtschaft, in der Lagerarbeit und Logistik, im Gastgewerbe, im Lebensmittelhandel und in Callcentern. Berichtet wird von der tagtäglichen Arbeitstortur, von Löhnen, die nicht zum Leben reichen, vom Zwang zu Überstunden oder zu einem Zweitjob; monate- oder gar jahrelangem Durcharbeiten auch an Wochenenden; krank, zuweilen schwer krank zur Arbeit gehen zu müssen, weil es keine Lohnfortzahlung gibt oder sonst der Job verloren geht. Die Geschichten erzählen von permanenter Überarbeitung, von permanentem Schlafmangel, von Albträumen, Panikattacken, Depression und Verzweiflung.
Die Enteignung der Zeit ist nicht auf die Arbeitszeit begrenzt. Die Hölle der Arbeit verfolgt einen bis in die angeblich freie Zeit und dringt in unsere Träume ein. Hier eine längere Originalsequenz einer ausgebildeten Pflegekraft:
«Unsere Arbeitskraft zu stehlen, ist nicht die einzige Art und Weise, wie das Kapital das Blut aus uns heraussaugt – es hat jeden einzelnen Teil unseres Lebens übernommen und strukturiert, einschließlich unserer Träume. Und es stiehlt nicht nur von uns, es schließt uns aus, spaltet uns, sagt uns, wer wir sein können, und lässt uns seine Drecksarbeit machen. Hierarchien darüber aufzustellen, wie wertvoll verschiedenen Gruppen sind und welche Arbeit sie leisten dürfen, um ihm zu dienen. Es sagt uns, was unsere Körper sind, was sie bedeuten, wie sie zu interpretieren sind, und bestraft uns, wenn wir es falsch machen. Es lehrt uns, uns selbst zu hassen. Es ist angemessen, dass wir Träume, nein, Albträume über die Arbeit haben – denn das Kapital ist der Stoff, aus dem die Albträume sind, die Zerstörung von allem, was menschlich ist.»

‹Wir waren nie dazu bestimmt, so zu leben›
In den Erzählungen findet sich, je genauer man sich einliest, eine fast unendliche Fülle von Facetten des Arbeitslebens, die in der akademischen arbeitssoziologischen Literatur schon lange nicht mehr auftauchen.
Ein Beispiel: Um seine Arbeit nicht zu verlieren, schuftet ein Mensch im Naturkostladen unter den widrigsten Bedingungen. Geführt von wohlhabenden, christlichen weißen Frauen, herrscht im Laden eine Atmosphäre der Bigotterie und doppelten Moral. Der Erzählende berichtet von einer schmerzhaften und schon blutenden, schweren Blasenentzündung und von seiner Angst vor Einkommensverlust, wenn er krank macht. Also geht er weiter arbeiten und riskiert im Grunde sein Leben.
Zweites Beispiel: Ein Metallarbeiter ist täglich Kühlschmierstoffen und damit Stäuben, Rauchen und Dämpfen ausgesetzt, er bekommt gravierende Atemwegsprobleme und darüber hinaus eine systemische Allergie. Er versucht es mit einem Jobwechsel, gerät aber vom Regen in die Traufe und ist zudem mit massivem Rassismus konfrontiert.
Drittes Beispiel: Ein älterer, aus Pakistan geflohener Journalist wird nicht als Flüchtling anerkannt und arbeitet als Tagelöhner in der Landwirtschaft. Körperlich ist er am Ende, doch es gilt das Motto: Wer hier arbeitet, wird nicht als Mensch angesehen. «Aber besser zu arbeiten als zu verhungern.» Und in einem der nächsten Berichte kommt ein Satz wie in Stein gemeißelt: «Die besitzende Klasse führt einen Klassenkampf, und dabei geht es nicht nur um wirtschaftliche Aspekte, es ist ein psychologischer Albtraum, es geht auch um unsere Psyche und unseren Körper.»
In fast allen Berichten ist von Schlafmangel, Schlaflosigkeit, völliger Übermüdung und leiblich-körperlicher Zerrüttung die Rede. Eine im Lebensmittelverkauf angestellte Frau erzählt von ihren verrückten Schichtzeiten: von der Spätschicht direkt wieder in die Frühschicht. Es ist ein System, «wo Computer Arbeiter:innen wie Zahlen durcheinander würfeln». Und sie gibt zu Protokoll: «Ich bin so müde, dass belanglose Sorgen mich regelrecht auffressen.» Sie rafft sich auf und sagt: «Wir waren nie dazu bestimmt, so zu leben», und beschließt, sich gewerkschaftlich zu engagieren. Dies meint die IWW – die Industrial Workers of the World – die sich nie auf eine rein ökonomische Ebene beschränken wollte. Die IWW nimmt die gesamte Existenz des arbeitenden, leidenden und sich wehrenden Menschen in all seinen Lebensaspekten in den Blick, genauso wie die Berichte im vorliegenden Buch weit über die Ökonomie hinausweisen: ins Politische, in Verhältnisse eines nicht entfremdeten Lebens.

‹Ich arbeite an einem Ort des Todes›
Für deutsche Leser:innen sind die Berichte aus der Pflegearbeit am schockierendsten. Die Pflegekräfte, die in den USA überwiegend migrantischen Hintergrund haben, arbeiten unter extrem schlechten Bedingungen. Sie sind einer strikten Arbeitshierarchie unterworfen: Eine Arbeitsschicht dauert zwölf Stunden oder länger, meist ohne Pausen, ohne Essenszeiten, oft ist nicht einmal eine Toilettenpause möglich. «Meistens ertrinken wir unter unfassbaren Mengen von Aufgaben und spüren das Brennen in unserer Blase, während wir die Toilettentüren beäugen, die viele Stunden entfernt scheinen.»
Für Fehler, die aufgrund von Übermüdung passieren können, wird die Pflegekraft juristisch haftbar gemacht, oft mit gravierenden Folgen: Verlust der Berufslizenz, hohe Geldstrafen oder Schlimmeres. Das Krankenhaus oder das Pflegeheim ist juristisch geschützt und haftet nicht. Die Pflegearbeit ist in den USA weitgehend standardisiert, taylorisiert, industrialisiert und an den Rand des Unmöglichen abgedrängt. Der Bericht beginnt mit dem Satz: «Ich arbeite an einem Ort des Todes.»
Allein schon wegen dieses Berichts ist das Buch Spuren der Arbeit von außergewöhnlichem Wert. Die Pflegerin gibt uns einen Einblick in ihren Alltag, erzählt von den Menschen, um die sie sich zu kümmern versucht, von deren Nöten und Ängsten, aber auch von deren Freude, dass sie überhaupt noch eine Kommunikation, eine Berührung, ein Spüren erleben dürfen. Auch gewinnt mensch einen Eindruck von wichtigen Momenten der Kollegialität und Solidarität unter den Pflegekräften. Doch werden all diese Situationen unterbrochen, unterminiert, zerschnitten und mutwillig zerstört von Führungskräften, Managern, Stationsleitungen und ihren willfährigen Helfer:innen.
Defekte Arbeitsgeräte, mangelnde Schutzausrüstung, unergonomische Arbeitsabläufe, offensichtliche Gefährdungssituationen für Pflegende und Patient:innen – all das gehört zum Arbeitsalltag. Andauernde Personalkürzungen verschlimmern den Arbeitsstress der verbleibenden Pflegekräfte.
Der Bericht rührt an wegen seiner großen emotionalen Kraft, seiner Sympathie für die kranken und zu versorgenden Menschen, seinem Bekenntnis auch für sog. «niedere Aufgaben», wenn sie sinnvoll und notwendig sind, aber auch wegen des aus ihm sprechenden Unmuts und Zorns angesichts willkürlicher, unsinniger oder völlig unrealistischer Zumutungen des Managements. «Ich versuche die Herausforderungen empathischer Fürsorge anzunehmen, während ich den Druck ablehne, wie eine Maschine im Namen der Fürsorgedefinition des Managements zu arbeiten.»
Die Betroffene kämpft gegen das «Eindringen der kapitalistischen Disziplin» in ihre Psyche, und sie beschreibt, wie schwer es ist, für sich selbst die Grenzen zwischen Menschlichkeit und Menschlichkeit heuchelnder Ideologie zu erkennen. Hoch belastend ist die Erfahrung, unter Zwang gegen das eigene Gewissen und die eigene ethische Überzeugung handeln zu müssen.
Der kollektive Unmut entlädt sich schließlich in gewerkschaftlichen Aktionen und Plakaten und Flugblättern, die insbesondere in die Forderung nach Personalaufstockung münden.
Die Art und Weise der Gewerkschaftsarbeit, Organizing, ist in den Augen manch hiesiger Gewerkschafter:innen fremdartig. Aber hier geht es nicht nur um Lohn, sondern um Menschenwürde, letztlich um Befreiung von den Zwängen, die uns der Kapitalismus auferlegt.
Das Buch irritiert, macht betroffen, wütend, traurig und nachdenklich. Allen, denen etwas an die Veränderung unserer Verhältnisse liegt, sollten es lesen.

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