Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 07/2022

Erdogan beschwört Krieg gegen Rojava, doch seine Wirtschaft liegt am Boden
von Serdar Kazak

Die Deutsche Welle meldete am 1.Juni 2022, «Präsident Erdogan» habe besonderes betont, dass seine Regierung im Kampf gegen den Terrorismus eine neue Etappe erreicht habe und eine Pufferzone von 30 Kilometer Tiefe errichten wird. Diese Wortwahl, «Errichtung einer Pufferzone», kann man übersetzen mit «Vertreibung der Kurden», und Nordsyrien mit Rojava. Wie realistisch ist es, eine so tiefe Pufferzone, oder besser gesagt Besatzungszone zu errichten? Dazu müssen wir zunächst einen kurzen Blick auf Wirtschaft und Politik der Türkei werfen.

Das Land leidet unter einer horrenden Inflation und noch schrecklicheren Abwertung der türkischen Lira. So eine wirtschaftliche Katastrophe gab es nicht einmal in den 1970er Jahren. Die jährliche Inflation der Türkei erreicht mittlerweile die Werte von Venezuela.
Die monatliche Inflation ist doppelt so hoch wie der Jahreswert in Deutschland. Selbst «Experten» der Regierung rechnen mit einer Rate von 70 Prozent, unabhängige Ökonomen gehen von einer mindestens doppelten, wenn nicht dreistelligen Rate aus.
Die Devisenreserven der Zentralbank sind auf ein Minus von 57 Milliarden Dollar gerutscht. Das Liquiditätsproblem ist nicht mehr ein konjunkturelles, sondern ein strukturelles und wird sich in der näheren Zukunft noch verschärfen.
Der Türkei ist es schon lange nicht mehr möglich, einen Kredit auf dem Weltmarkt zu bekommen. Kredite werden nur dann freigegeben, wenn sie bereit ist, die hohen Ausfallversicherungen zu bezahlen. Das Außenhandelsdefizit beträgt 10,6 Milliarden Dollar. Geld fehlt an jeder Ecke.
In den Bereichen, die auf ausländische Devisen angewiesen sind, drückt die Knappheit noch ärger. Frisches Geld wird gedruckt, um wenigstens den Binnenmarkt zu beleben – damit wird die Inflation noch stärker angeheizt. Wird jedoch weniger Geld gedruckt, steigen Arbeitslosigkeit und Armut, die sich bei Wahlen in Stimmenverlusten niederschlagen.
Die forcierte neoliberale Wirtschaftspolitik der letzten zwanzig Jahre hat die Agrar-, aber auch die Industrieproduktion vernichtet. Außer dem Waffen- und Bausektor sind alle anderen Wirtschaftszweige in die Bedeutungslosigkeit gerutscht. Seit zwei Jahren stellt man nun fest, dass man weder Hochhäuser noch bewaffnete Drohnen essen kann. Das einstige Agrarland Türkei importiert mittlerweile Getreide und es herrscht sogar, wegen des Krieges in der Ukraine, Nahrungsmittelknappheit. Der Neoliberalismus islamischen Typs hat nichts anderes gebracht als eine wirtschaftliche Ruine.

Der alte Trick
Was macht man mit so einer Wirtschaft, wenn Wahlen bevorstehen? «Gefahr droht von außen», ist in solchen Zeiten das Beste, was man haben kann. Man kann die nationalistischen Wähler enger um sich scharen oder, wenn das nicht geht, kann man die Wahlen verschieben. Gefahr von außen droht der Türkei eigentlich nicht. Griechenland tut nichts, dem die AKP in der Vergangenheit nicht zugestimmt hätte. Sogar die PKK hat ihre Kräfte aus dem Land abgezogen. Es gibt absolut keine Gefahr für die Türkei außer den Kurden.
Da es keine Gefahr von außen gibt, muss man sie zur Not selber herstellen, indem man einen «Krieg» provoziert. Und wenn auch das nicht geht, muss man selber angreifen. Ein Angriff gegen NATO-Land Griechenland ist nicht möglich, aber eine «Operation» gegen «kurdische Terroristen» kann in so einer Situation bedingt helfen.
Bedingt. Weil jede kriegerische Auseinandersetzung, die länger dauert als ein paar Wochen (sogar ein paar Tage) von der Türkei unmöglich finanziert werden kann. Beim jetzigen Zustand der Wirtschaft in der Türkei ist ein Angriffskrieg der sichere Selbstmord.

Absehbare Niederlage
Seit einigen Monaten zeigen alle Umfragen, dass die nächste Wahl für Erdogan extrem gefährlich wird. Seine Koalition mit der faschistischen MHP bröckelt. Eine Parlamentsmehrheit rückt in immer weitere Ferne. In den Umfragen zur Direktwahl schlagen alle möglichen Kandidaten Erdogan persönlich. Und das wichtigste: Ausgerechnet die «prokurdische» HDP hat mit einem prognostizieren Anteil von 15 Prozent der Stimmen die historische Möglichkeit, Schlüsselpartei zu werden.
Eine tatsächliche «Operation» in Syrien gegen die Kurden steigert die Chancen, dass die Kurd:innen in den Gebieten mit türkischer Mehrheit die Opposition wählen. Wozu das führen kann, hat Erdogan in Istanbul erlebt – bei den dortigen Bürgermeisterwahlen holte die Opposition damals knapp 1 Million Stimmen mehr als die AKP.
Droht also gar keine Gefahr? Doch… Einzelne Luftangriffe sind immer möglich, und das ist schlimm genug für die Menschen dort, die mit den bewaffneten türkischen Drohnen leben müssen.

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