Das ‹glücklichste Land der Welt› will in die NATO
von Michael Heldt
Vor dem Ukrainekrieg war Finnland weltweit vor allem in den Schlagzeilen, weil die Bevölkerung viermal in Folge als zur glücklichsten der Welt erklärt wurde. Ob dieses Glück, dass sich nach schweren Jahren nach 1989 für beträchtliche Teile der Bevölkerung entwickelte, anhalten wird, ist fraglich.
In Finnland ist durch den russischen Angriff auf die Ukraine einiges in Bewegung gekommen. Nach dem Zweiten Weltkrieg galt Neutralität in internationalen Fragen als gesellschaftlicher Grundkonsens. Es wurde kooperiert, militärisch mit dem Westen, wirtschaftlich mit allen und nicht selten vermittelten finnische Diplomat:innen in gewaltsamen Konflikten.
Schon nach der Annexion der Krim 2014 reagierte die finnische Militärstrategie und baute die bilaterale Zusammenarbeit mit Schweden, aber ebenso mit der NATO und den USA aus. 2019 wurde unter dem Titel «Northern Wind 2019» die gemeinsame Verteidigung Nordschwedens in einem gemeinsamen Manöver der schwedischen und finnischen Streitkräfte erprobt. Trotz dieser Verschiebungen blieb eine Befürwortung zu einem NATO-Beitritt in der Bevölkerung bei unter 30 Prozent. Seit der Eskalation in der Ukraine explodierte diese Zustimmung auf über 70 Prozent.
Es ist anzunehmen, dass diese Mehrheit in den kommenden Monaten wieder bröckeln wird. Aber die Regierung hat die Situation genutzt, um den Prozess zur NATO-Mitgliedschaft in die Wege zu leiten, der nur schwerlich wieder zu kippen sein wird – anders als Proteste gegen die Stationierung von NATO-Truppen.
Die Hoffnung, dass Erdogan die Aufnahme von Schweden und Finnland, unter dem Vorwand ihrer Unterstützung für die PKK, verhindern wird, bewegt sich auf dünnem Eis. Für die türkische Regierung ergibt sich hier die Chance letzte, relativ sichere, Rückzugsräume in Europa anzugreifen, die bisher für geflüchtete politische Aktivist:innen aus der Türkei und Kurdistan genutzt wurden.
Land unter Waffen
Beachtung verdient der heutige Aufbau der finnischen Armee. Von den 5,5 Millionen Einwohner:innen sind 900000 in die finnische Armee eingebunden, 2 Millionen werden als «wehrtauglich» eingestuft – Tendenz steigend, nach Jahren des Rückbaus von militärischer Infrastruktur im Zuge des Niedergangs der Sowjetunion. Damit verfolgt Finnland ein besonderes Modell: Die reguläre Armee ist auffällig klein (23000 Menschen zzgl. etwa 17000 in paramilitärischen Einheiten), die Mobilisierungsfähigkeit im Falle eines Angriffs aber enorm: Über 10 Prozent der erwachsenen Bevölkerung wäre im Kriegsfall in militärische Strukturen integriert und für einen Einsatz ausgebildet.
Das basiert auf der bestehenden Wehrpflicht, gekoppelt mit einer regelmäßigen Ausbildung der Reservist:innen und dem Zugriff auf eine hochmoderne Waffentechnik. Finnland wäre nicht zu «erobern», nur zu vernichten. Befürchtet werden nun vor allem vermehrte Cyberangriffe. Was sie in die NATO treibt, ist die Angst vor der atomaren Bedrohung.
Für die NATO wird mit dem Beitritt Finnlands die Grenze zu Russland um 1300 Kilometer länger. Trotzdem wird die NATO durch diese Erweiterung gestärkt, der Nutzen für Finnland wird hingegen unbedeutend sein. Eine Entspannung der Situation wird durch diesen Schritt in keiner Weise eingeleitet – das hat Moskau schon deutlich gemacht. Dort wird der Beitritt als «informelle Kriegserklärung» gewertet, an den Grenzen Militär medienwirksam postiert. Dass die russische Föderation Stromlieferungen an Finnland eingestellt hat, belastet die Infrastruktur hingegen nicht.
Die finnische Linke
Das mit 16 Sitzen im finnischen Parlament vertretene Linksbündnis, Mitglied der Europäischen Linken, kritisiert nicht das Ansinnen an sich, der NATO beizutreten. Vielmehr sorgt es sich um die sozialen Folgen und die militärischen Notwendigkeiten, die mit einer Mitgliedschaft einhergehen. Betont wird, dass es bisher keinen Anlass gibt davon auszugehen, dass ausländische Investoren sich durch den russischen Angriff der Ukraine von Aktivitäten in Finnland abschrecken ließen. Die Kritik richtet sich vielmehr gegen eine mögliche Stationierung von Atomwaffen in Finnland.
Die radikale Linke ist durch die rasante Verschiebung der Debatte zumindest temporär marginalisiert. Bei einzelnen Kundgebungen und Protesten konnten in Helsinki und Tampere maximal 500 Menschen mobilisiert werden.
Auch wenn Finnland für das imperialistische Militärbündnis ein großer Zugewinn ist – einflussreicher war das Land als tendenziell neutraler Pol allemal. Bei strategischen Entscheidungen können die führenden NATO-Staaten Finnlands Interessen in Zukunft leichter übergehen. Welche Folgen das für das Bewusstsein der arbeitenden Klassen in dieser jungen Nation hat, wird die Zukunft zeigen. Besser wird für diese durch den Beitritt nichts.
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