Über die Arbeitsbedingungen im Versandhandel und in der Fleischindustrie
von Wolfgang Hien
Peter Birke: Grenzen aus Glas. Arbeit, Rassismus und Kämpfe der Migration in Deutschland. Wien: Mandelbaum, 2022. 398 S., 27 Euro
Dies ist ein beeindruckendes und zugleich schwieriges Buch.
Der Autor ist ein seit Jahrzehnten in der Betriebs- und Gewerkschaftslinken engagierter Mensch mit einer in der Arbeiter:innenklasse wurzelnden Biografie: gelernter Drucker, Betriebsrat, Hochschule für Wirtschaft und Politik, Betriebsgruppe «Blauer Montag», Dissertation über die wilden Streiks im Ruhrgebiet während der 60er Jahre, seit einigen Jahren am Soziologischen Forschungsinstitut in Göttingen mit eingreifenden Untersuchungen in migrantischen Arbeitsbereichen befasst, die letzten Jahre vor allem in der Fleischindustrie und im Versandhandel, wofür Tönnies und Amazon nur als Beispiele stehen.
Peter war und ist es immer wichtig, nicht nur die Arbeitssphäre als solche, sondern den gesamten Lebenszusammenhang – «die multiple Prekarität» – zu sehen. Peter geht seit Jahren mit seinen Studierenden «ins Feld»: Beobachtungsstudien und Interviews mit Führungspersonen und vor allem mit vielen Arbeiter:innen. Aus diesem empirischen Fundus heraus entstand das vorliegende Buch, offensichtlich zugleich eine Habilitationsarbeit.
Und hierin liegt die Crux: Peter hat eine ungeheure Fülle an internationaler linker Forschungsliteratur zur prekären und migrantischen Arbeit rezipiert und in seine Interpretationen und Diskussionen – zuweilen auch mit mutigen persönlichen Bemerkungen und Wertungen – eingebaut. So besteht das Buch einerseits aus Berichten und Originalzitaten, die einen tiefen und berührenden Einblick in die Arbeits- und Lebenssituation eines relevanten Teils der arbeitenden Klassen in Deutschland geben.
Andererseits wird das lesende Erleben durch eine Vielzahl von theoretischen und teilweise höchste abstrakt bleibenden Überlegungen unterbrochen, die in der Frage gipfeln: Gibt es Ansätze einer Klassenbildung «für sich», das heißt: Gibt es Aspekte und Indizien, die darauf hindeuten, dass in den prekären und halbprekären Arbeitsbereichen ein neues kämpfenden Proletariat entsteht?
Ähnlichkeiten und Unterschiede
Es gibt Ähnlichkeiten bei Versandhandel und Fleischindustrie, aber auch große Unterschiede: Herrschen in letzterer ganz augenscheinlich ethnische Spaltungen und Rassismus vor, so sind in ersterem ethnische Vielfalt und Rassismus auf den ersten Blick kein Problem, auf den zweiten Blick jedoch durchaus. Daher auch die Metapher: «Grenzen aus Glas».
Weitere Ähnlichkeiten und Unterschiede: In beiden Bereichen ist die Arbeit körperlich hochgradig belastend und gesundheitsverschleißend, im Schlachtbetrieb ganz offensichtlich, im Versandhandel eher subtil. Schlachtereien sind klassisch tayloristisch und im Modus der Kommandoherrschaft organisiert, sodass auch die Betroffenen selbst von Sklavenarbeit sprechen. Bei Amazon werden differenzierte Sozialtechniken angewendet, die den ideologischen Anschein erwecken, dass hier jede und jeder eine Karriere machen kann.
Auch Arbeitserfahrungen während der Pandemie haben Eingang gefunden. Für beide untersuchten Arbeitsbereiche gilt: Kaum jemand kann sich vorstellen, auf Dauer dort zu arbeiten. Es gibt grundsätzlich eine perspektivische Exit-Haltung: «Statt bei einer Forderung nach guter Arbeit zu landen, scheint es vielmehr um den Kampf gegen die Arbeit zu gehen.» Der Informalisierung – d.h. dem Umstand, dass sich immer weitere Teile der Arbeitssphäre sozialstaatlichen Kriterien entziehen – stehen neue Kampfformen gegenüber: «kleine Verweigerungen», «Tricks und Kniffe», um den Arbeitsalltag stellenweise etwas erträglicher zu machen. «Es sind Aktionen der Arbeitenden zur Bewahrung der Würde und der gesundheitlichen Integrität sowie der materiellen Absicherung.»
Peter lässt keinen Zweifel daran, dass die entscheidende Kraft, die Verhältnisse zu ändern, nur von den Arbeitenden selbst kommen kann und nicht etwa von einem anderen Konsumverhalten oder zivilgesellschaftlichen Initiativen. Und er kann zeigen, dass sich die Arbeitenden dessen bewusst sind.
Weiterführende Fragestellungen
Hier stellt sich Peter mögliche neue Formen gewerkschaftlicher Strategie und Taktik vor, die freilich mit dem tradierten Apparat wohl kaum zu machen ist. Hier könnten Überlegungen ansetzen, wie leibliches Arbeitsleid aus seiner Sprachlosigkeit herausgeholt und zum betrieblichen und gewerkschaftlichen Thema gemacht werden kann. Hier könnten Überlegungen ansetzen, wie aus den verborgenden Situationen, den kleinen Verweigerungen, offene und auseinandersetzungsfähige Sprechakte werden können, und vor allem: welche Bedingungen hierfür nötig wären.
Hier könnte an Erfahrungen angeknüpft werden, wie sie bspw. in den 1970er Jahren in den italienischen Kämpfen um einer Arbeiter:innenmedizin oder in den 2000er Jahren bei Alstom Power in Mannheim gesammelt wurden – indem Kämpfe an der Imagination von Menschenrechten und dem Elementarrecht auf Gesundheitsschutz orientiert und damit auch ein stückweit verstetigt werden.
Dem Diskurs in der Arbeiter:innenlinken fehlt dieser Aspekt, wie Trauer, Zorn und Wut über die leiblich spürbare Ausbeutung, über den Schmerz der Leidarbeit, in eine Kraft transformiert werden kann, die tatsächlich Arbeiter:innenmacht im Betrieb aufbaut. Hier werden sich auch die Geister scheiden: betriebliche Basisarbeit oder Einflussnahme auf Parlamente und Institutionen? Mit letzterem vergeuden die Gewerkschaftsapparate gerade ihr ganzes Potenzial.
Schade, dass Peter ein solch wichtiges Buch in einer Art theoretischer Einsamkeit geschrieben hat – oder hat schreiben müssen –, ohne die hier angedeuteten Gedanken aufzunehmen.
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