Die kleine Schwester des Defätismus
von Albrecht Kieser
Kriegsmüdigkeit ist das Gegenteil von Kriegsbegeisterung. Wer vor Kriegsmüdigkeit warnt, tadelt, dass es an eben dieser Begeisterung fehlt: dem Volk, den Soldaten, den Medien. Der erhobene Zeigefinger will sagen: Müdigkeit macht schläfrig, sie hilft dem Feind.
Kriegsmüdigkeit führt, so warnt der, der uns dieses Wort hinwirft, in die eigene Niederlage. Kriegsmüdigkeit ist die leise Vorstufe des Defätismus, des Unglaubens an den eigenen Sieg, der, wird er laut ausgesprochen, die eigene Kriegsmoral aktiv zersetzt, als gedankliche Sabotage die Kriegswilligen irritiert oder erschüttert und üblicherweise vor einem Militärtribunal endet. Überall, wo Krieg geführt wird.
Auch hierzulande ist Kriegsmüdigkeit die kleine Schwester des Defätismus, auf deutsch: der Wehrkraftzersetzung, denn sie lässt es an der erforderlichen Wachheit an den Waffen und der geforderten Bereitschaft zum Krieg missen. Seit dem Ersten Weltkrieg. Erst recht seit dem Zweiten: «Wer öffentlich den Willen des deutschen oder verbündeten Volkes zur wehrhaften Selbstbehauptung zu lähmen oder zu zersetzen sucht», so heißt es in §5 der Kriegssonderstrafrechtsverordnung von 1939, «wird mit dem Tode bestraft.»
Elisabeth von Thadden (1890–1944), eine Lehrerin im Widerstand, wurde wegen Defätismus zum Tode verurteilt und hingerichtet. Der Dichter Wolfgang Borchert (1921–1947) wurde wegen Defätismus zu neun Monaten Gefängnis verurteilt und zur Feindbewährung an die Front geschickt. Bis zum 30.Juni 1944 ergingen 14262 Verurteilungen wegen «Wehrkraftzersetzung». Als hinreichend für ein Todesurteil galt bereits die Forderung, man müsse endlich «den Weg zum Verständnisfrieden freimachen», schrieb 1987 Ingo Müller in seinem Standardwerk Furchtbare Juristen.
Bei uns wird niemand hingerichtet. Auch nicht wegen Kriegsmüdigkeit. Die grüne Außenministerin Annalena Baerbock, die mit dieser Vokabel am 25.Mai in Kristiansand die europäische Bevölkerung anklagte, hat keine Henker zur Hand. Wir leben in einem Land, das die Todesstrafe abgeschafft hat.
Wie vertreibt man Kriegsmüdigkeit? Mit Kriegspropaganda. Mit Durchhalteparolen. Mit dem Anprangern der Müden, mit dem Verächtlichmachen derer, die nicht mehr wollen, nicht mehr können, die vielleicht auch noch nie wollten, die schon immer oder erst jetzt keinen Nutzen im Krieg sehen, denen die Nachteile des Krieges deutlicher sind als die propagierten Vorteile.
Der größte propagierte Vorteil: die Verteidigung der Demokratie. Der zweitgrößte: Sterben tun die anderen. Wir sitzen auf dem Balkon und lassen schießen, wahlweise klatschen wir Beifall. Das können wir seit Corona.
Siegen wollen ist Kriegspropaganda (Baerbock am 2.Juni im ZDF: «Die Ukraine muss gewinnen»). Deeskalieren, den Gegner verstehen wollen, verhandeln ist Diplomatie. Sie ist nur möglich, wenn man «kriegsmüde» ist, des Krieges überdrüssig.
Wie viele heute von der Alternativlosigkeit von Waffenlieferungen an die Ukraine reden, das ist schon erstaunlich: die Toten Hosen und ihr Ex-Punk-Chef Campino, Wolfgang Niedecken, der Barde aus Köln und Friedensfreund der 80er Jahre. Den beiden und den vielen anderen ist die westliche Demokratie wenn nicht heilig, so doch heilig genug, um gegen den Feind aus dem Osten verteidigt zu werden (wobei, wie gesagt, alle auf dem Balkon sitzen und keiner die neuen Internationalen Brigaden gründen hilft). Ist Russland das neue, die Welt bedrohende Nazireich? Ist Putin Hitler? Ist der Kriegskurs des Westens bloße Verteidigung? Ist er tatsächlich alternativlos?
Oder geht es bei der Warnung vor Kriegsmüdigkeit um ganz etwas anderes? Wollen Baerbock und Kompanie endlich mal auf einer vermeintlich richtigen Seite entschieden und robust zuschlagen? Was ihre Großväter ja auch getan haben, nur auf der falschen Seite. Aber dieses Martialische, dieses Siegenwollen um jeden Preis, dieser Griff in die blutbesudelte verbale Mottenkiste: Sind hier die Erfahrungen der Weltkriegsgeneration auf Umwegen in die Gedanken- und Gefühlswelt der Enkelgeneration eingegangen?
Solche Fragen zu diskutieren und zu einer anderen als der herrschenden Meinung zu gelangen, wäre dringend. Aber wer auf Frieden setzt, gehörte heute zur fünften Kolonne Putins, das seien Fantasten, gefährliche Irre, intellektuelle Versager. Aha, wird gerade dieses demokratische Diskursniveau in der Ukraine verteidigt? Wo Kriegsrecht herrscht, wo alle oppositionellen Parteien verboten sind, wo gewerkschaftliche Rechte kassiert wurden, wo alle sozialen Medien und alle Telefongespräche, auch die mit den Geflüchteten im Ausland, mitgeschnitten werden?
«Den Weg zum Verständnisfrieden freimachen.» Das ist eine, wie gesagt, schon ältere Position. Sie ist richtig. Schlicht und einfach.
Übrigens: Die Türkei hat aktuell nicht nur weite Gebiete Nordsyriens okkupiert und bereitet die Besetzung weiterer Landesteile vor. Sie hat darüber hinaus Militärstützpunkte im Nordirak errichtet, dort mehrere tausend Soldaten stationiert und mit dem Bau von Straßen zwischen seinen Armeebasen begonnen, um das Territorium zu kontrollieren. Annalena, Ihr Kommentar?
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