Leserbrief
19. Juli 2022
Ein paar Gedanken zur Position von Linken zum Ukraine-Krieg
von A.Holberg, 3.6.2022
Vorbemerkung:
Wenn ich mich hier an Linke wende, so meine ich durchaus auch liberale Linke, nicht jedoch Linksliberale.
- der aktuelle Krieg in der Ukraine wird als völkerrechtswidriger Angriffskrieg der “Russischen Föderation“ (RF) bezeichnet. Formell gesehen ist das richtig, wenngleich es sich letztlich - wie unterdessen sogar mehr oder weniger deutlich von westlichen großbürgerlichen Medien wie der “New York Times“ und der “Washington Post“ eingeräumt - um einen Stellvertreterkrieg handelt, in dem die Ukraine die geopolitischen Interessen der USA&Co gegen die RF und perspektivisch die VRChina verteidigt. Wäre dem nicht so, würden die um den (noch) globalen Hegemon USA gescharte NATO die Ukraine nicht mehr oder weniger direkt militärisch verteidigen. Das würde bedeuten, dass dieser Krieg wohl inzwischen zu Gunsten der RF beendet wäre. Nun ist das Problem allerdings, dass dieses “Völkerrecht“ in der realen Welt das Papier nicht wert ist, auf dem es gedruckt ist. Das gilt insbesondere dann, wenn es als wichtig betrachteten Interessen derer entgegensteht, die glauben, ihre Interesse mit Gewalt durchsetzen zu können. Davon legt die bekannte Serie gerade auch US-amerikanischer Überfälle auf andere Staaten seit Ende des 2. Weltkriegs, verschiedentlich mit direkter Unterstützung der verbündeten NATO-“Menschenrechtler“ ausreichend Zeugnis ab. Zum “Völkerrecht“ gehört im übrigen auch die Anerkennung des “nationalen Selbstbestimmungsrechtes“. Dabei berechtigt diese nationale Selbstbestimmung natürlich nicht dazu, andere Staaten/Völker direkt oder indirekt anzugreifen oder sich für andere potentielle Angreifer als Sprungbrett zur Verfügung zu stellen. Dass dieses Selbstbestimmungsrecht seit jeher von den Staaten dieser Welt nach Bedarf ignoriert wird, ist offensichtlich. Man denke u.a. an das Los der Palästinenser, der Kurden oder der Sahrauis der marokkanisch besetzten Westsahara. Für die Ukraine würde das bedeuten, dass die Ukrainer, die sich in erster Linie als ethnische Ukrainer betrachten, das Recht auf einen eigenen Staat außerhalb der RF haben (was ihnen von der RF auch bisher nicht bestritten wird), aber jene heute in der Ukraine lebenden ethnischen Minderheiten, in erster Linie die russischsprachigen, ebenso das Recht haben, nicht Staatsbürger der Ukraine zu sein. Es gibt keinen ernsthaften Grund, nicht davon auszugehen, dass das Gros der russophonen Bevölkerung z.B. im Donbass spätestens seit dem Maidan-Putsch von 2014 kein Bedürfnis mehr gespürt hat, Bürger der Ukraine zu bleiben. Bekanntlich, wenngleich von den bürgerlichen Medien meist schamhaft verschwiegen, hat dieser vom Westen großzügig finanzierte Putsch zunächst zu einer schrittweisen Einschränkung ihrer kulturellen Rechte in der Ukraine geführt. Diese Einschränkung bestand in erster Linien in der Abschaffung des bis dahin geltenden gleichberechtigten Status der russischen Sprache. Der sich daraufhin konkretisierende Wunsch der russischen Minderheit in den Regionen, in der sie die Mehrheit stellt (Donbass), ihr nationales Selbstbestimmungsrechtes in Form einer staatlichen Trennung von der Ukraine oder auch nur in Form einer Autonomie innerhalb der Ukraine, wie sie in den Minsker Abkommen vorgesehen war, zu realisieren, versuchte das Kiewer Regime dann ca. 8 Jahre lang im im Blut zu ertränken.
- Ein erheblicher Teil der „Linken“ gefällt sich nun in der Position des „Pazifismus“. Der Pazifismus (“Gewalt löst kein Problem“) ist sympathisch, aber keine realistische und damit keine marxistische Position. Weder die französische Revolution noch die Oktoberrevolutionäre (Bolschewiki) noch die antikolonialen nationalen Befreiungsbewegungen konnten es sich leisten, pazifistisch zu sein, wenngleich sie zweifellos für eine friedliche Welt kämpften, indem sie für diese die materiellen Grundlagen schaffen wollten. Das galt besonders für die Bolschewiki zu Zeiten Lenins.
- Das Regime in der RF und das in der Ukraine sind (wie bei genauem Hinsehen auch das der USA) bürgerlich-oligarchische Regime. Deshalb fordern manche Linke im Namen des Klassenkampfes eine Äquidistanz, eine Idee, die manche “Linke“ sogar auf die USA&Co (à la NATO) und die RF beziehen. a) im 2. Weltkrieg waren das Deutsche Reich und die relevanten Gegner, die “Alliierten“, gleichermaßen monopolkapitalistische imperialistische Staaten (über der sozioökonomischen Charakter der UdSSR - sozialistisch, degenerierter Arbeiterstaat, staatskapitalistisch? - kann man diskutieren). War die Linke deshalb im Krieg neutral? b) oder: aus den antikolonialen nationalen Befreiungskämpfen gingen schließlich sehr oft korrupte bürgerliche Diktaturen hervor. Hätte die Linke deshalb (selbst wenn sie dieses Ergebnis schon während des Kampfes erwartet hätte) neutral sein oder gar die “demokratische“ Kolonialherren wie die französischen oder britischen unterstützen dürfen? c) Linke im hier gemeinten Sinn sind Internationalisten. Sie sind in dieser Frage keine Nihilisten. Das bedeutet, dass sie die Realität der Existenz von Nationen keinesfalls ignorieren, sondern auf der Basis der Anerkennung der Notwendigkeit des nationenübergreifenden Klassenkampfes die Gleichberechtigung dieser Nationen anerkennen. Dass die RF der Ukraine insgesamt das Recht auf nationale Eigenständigkeit bestreite, darf man natürlich glauben, sollte es aber mangels konkreter Hinweise darauf bis zum Beweis des Gegenteils nicht behaupten.
- Der Krieg der RF gegen die Ukraine fordert unschuldige Menschenleben. a) das ist unbestreitbar, gehört aber leider zu jedem Krieg - auch zu dem, was von Linken unterstützte bewaffnete Kräfte tun (müssen).
- Falls die RF aktuell “imperialistisch“ ist, ist sie gegenüber den USA&Co. bislang jedenfalls der schwächere Imperialist (man vergleiche u.a. die Zahl der weltweit verteilen Militärbasen der RF und die der NATO-Staaten und natürlich die jeweiligen Militärausgaben sowie die allgemeine wirtschaftliche Kraft). Es kann nicht Aufgabe von Linken sein, ihre herrschende Klasse (oder auch nur deren herrschende Fraktion) im internationalen Konkurrenzkampf zu unterstützen und das insbesondere nicht, wenn diese - wie problemlos nachweisbar in Gestalt des US-Imperialismus - ohnehin die stärkere und zudem unübersehbar aggressivere und folglich blutigere ist. Das gilt im vorliegenden Fall nicht zuletzt auch, wenn es überhaupt keinen ernstzunehmenden Hinweis darauf gibt, dass das Kiewer Regime irgendwie „demokratischer“ als das der RF ist. Während es in der RF, wie wohl fast überall auf der Welt, unbestreitbar rechtsradikale und gar faschistische Kräfte gibt, besteht die Spezialität der Ukraine seit 2014 darin, dass diese eigenständig organisiert und bewaffnet und so Teil des offiziellen Militärs sind und unverkennbar die offizielle Regierung im Schwitzkasten halten. Die Ukraine dürfte zudem das einzige europäische Land sein, in dem ein unbezweifelbarer Faschist, nämlich Stepan Bandera, nach 2014 zum offiziellen Nationalhelden erklärt wurde und ihm in weiten Teilen des Landes Denkmäler errichtet wurden. Dessen Organisation, die “Organisation Ukrainischer Nationalisten“ (OUN), ist im 2. Weltkrieg bekanntlich den deutschen Besatzern freudig zur Hand gegangen und zwar nicht nur im Kampf gegen die Truppen der UdSSR (zu denen ein gewaltige Zahl von Ukrainern gehörte!), sondern vor allem auch bei der Umsetzung des antijüdischen Holocaust sowie der Ermordung abertausender Polen und Roma. Das festzustellen, bedeutet natürlich nicht, die offizielle Propaganda der RF, sie wolle die Ukraine „entnazifizieren“ als wichtigen Grund für ihre Militäroperation ernstzunehmen. Ebensowenig wie das Zarenreich gegen die Truppen Napoleons oder die des deutschen Kaisers kämpfte, um die inneren Verhältnisse in Frankreich oder Deutschland zu verändern, führte die UdSSR den 2.Weltkrieg führte, um den Faschismus zu besiegen, sondern eben um fremde Eroberer - welcher politischen Richtung auch immer - vom eigenen Territorium zu vertreiben. So ist es heute unverkennbar das zentrale Ziel der RF, das weitere Vorrücken von NATO-Raketen und Truppen an die politischen und ökonomischen Zentren der RF zu stoppen solange dafür noch Zeit ist. Die RF ist für den westlichen Imperialismus ein wichtiges Ziel, weil sie einerseits über eine ungeheuere Masse an Rohstoffen verfügt und darüberhinaus geographisch einen Großteil der Westgrenze der VRChina schützt. Die erwähnte „Entnazifizierung“ der Ukraine ist ein Nebenprodukt dieses Vorhabens, weil natürlich die faschistischen Kräfte in der Ukraine - wenn auch nur aus taktischen Gründen - die wichtigsten Unterstützer der erwähnten NATO-Strategie sind. Auf den Einsatz solcher Kräfte haben die USA im übrigen schon früher gesetzt, wie etwa in Afghanistan zu Zeiten der Regierung der links-nationalistischen Volksdemokratischen Partei und zwar schon vor der sowjetischen Militärpräsenz im Land in Gestalt Bin Laden&Co.(s. https://thegrayzone.com/2022/05/31/us-trained-extremists-fighting-russia-blowback/)
- Für Linke ideal wäre es, wenn sie sich auf starke proletarische Klassenbewegungen sowohl in der Ukraine als auch der RF stützen könnten und es so eine realistische Perspektive auf den Sturz der bourgeoisen Regime in Moskau und Kiew gäbe und somit eine friedliche Lösung der anstehenden Probleme. Diese gibt es aber nicht. Unter diesen Umständen bedeutet die Position der Äquidistanz in der Praxis nichts anderes als eine offene oder versteckte Unterstützung der dem aktuellen Krieg lange vorhergegangenen Bemühungen des US/NATO-Imperialismus, die RF klein zu halten bevor sie (im Bündnis mit der „VR“China) zu einer ernsthaften Bedrohungen seiner seit Ende des 2. Weltkriegs bestehenden globalen Vormachtstellung werden kann.
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