Gewerkschaften und Frauen gegen die russische Invasion
von Jean Vogel
Vom 2. bis 8.Mai besuchte eine Delegation des Europäischen Netzwerks für Solidarität mit der Ukraine das Land. Der Delegation gehörten 26 Personen aus zehn europäischen Ländern an: Belgien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Österreich, Polen, Spanien und der Schweiz. Mit dabei waren Parlamentsabgeordnete aus Dänemark, Finnland, Polen und der Schweiz.
Der Aufenthalt wurde von Sozialnyj Ruch (Soziale Bewegung) organisiert, eine junge ukrainische linke Organisation, die Widerstand gegen die Aggression des russischen Imperialismus leistet, aber auch für die Verteidigung sozialer Rechte und demokratischer Freiheiten und die Autonomie der sozialen Bewegungen in der Ukraine kämpft. Die Delegation wurde von der Regierung unterstützt.
Die Delegation hat sich mit Vertretern der Gewerkschaften des Gesundheitswesens, des Eisenbahnverkehrs, der Bergarbeiter, des öffentlichen Dienstes, der Arbeiter in Atomkraftwerken usw. getroffen, aber auch mit Aktivistinnen von Frauen- und feministischen Organisationen, von Solidaritätsorganisationen für Flüchtlinge und Migranten, mit Aktivistinnen der Umweltbewegung, der autonomen Organisation zur Verteidigung der Rechte der Rom und eines Queerkollektivs.
Oleksandr Skyba ist Eisenbahner im Darnizja-Depot in Kiew und Aktivist der Freien Gewerkschaft der Eisenbahner und Transportmittelhersteller. Er beschrieb die gefährlichen Bedingungen, unter denen er und seine Kollegen arbeiteten, als die russischen Streitkräfte versuchten, die Hauptstadt zu belagern.
Die Eisenbahnen sind für den Nachschub für die Truppen von entscheidender Bedeutung und wurden deshalb von den Russen ins Visier genommen, die die Züge und Gleise bombardierten und auf die Eisenbahner schossen. Viele Eisenbahner sind gestorben. Skyba beschrieb, wie sich die Arbeit der Gewerkschaft auf das Überleben ihrer Mitglieder konzentrierte – Transport von Hilfsgütern, Rettung gefährdeter Beschäftigter, Bereitstellung von Lebensmitteln und Unterstützung der vielen Eisenbahner, die in den Einheiten der territorialen Verteidigung und in den Streitkräften kämpfen.
Darüber hinaus kümmert sich die Gewerkschaft um die Ströme von Vertriebenen und Flüchtlingen, meist Frauen und Kinder, die obdachlos sind und nichts zu essen haben, während die öffentlichen Behörden oft versagen.
Die Gewerkschaft besucht auch ihre Mitglieder an der Front um sicherzustellen, dass sie eine Grundausbildung in Erster Hilfe und in militärischen Techniken, insbesondere in der Identifizierung von Minen erhalten. Ältere Ukrainer haben Erfahrung mit dem Militär, aber der Krieg hat zum ersten Mal viele junge Arbeiter eingezogen, für die die gewerkschaftlichen Netzwerke oft eine entscheidende Quelle der Unterstützung sind.
Juriy Petrowitsch Samoilow ist Vorsitzender der Unabhängigen Bergarbeitergewerkschaft aus der Industriestadt Krywyj Rih im Oblast Dnipropetrowsk, nicht weit von der Frontlinie entfernt. Er beschrieb die Bemühungen seiner Gewerkschaft, in die Kämpfe verwickelte Mitglieder mit Informationen und Vorräte zu versorgen. Zwei Aktivisten der Bergarbeitergewerkschaft sind gefallen.
Viele Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter betonten, wie klar es den Arbeitern sei, dass ihre unabhängigen Organisationen unter russischer Besatzung kaum eine Überlebenschance hätten. Ein Kollege aus Krywyj Rih verwies auf die völlige Zerschlagung gewerkschaftlicher und anderer unabhängiger, ziviler Organisationen in den russischen «Volksrepubliken» Donetzk und Luhansk. Weitgehend international isoliert und konfrontiert mit dem völligen Zusammenbruch der Wirtschaft sind die Arbeiter:innen in diesen Regionen machtlos und starken Repressalien ausgesetzt, ihre früheren sozialen Errungenschaften haben sie verloren.
Samoilow sprach auch über die Abhängigkeit vieler europäischer Volkswirtschaften (einschließlich der Ukraine) von russischen fossilen Brennstoffen, und wie diese Abhängigkeit nun für imperialistische Zwecke ausgenutzt wird. Die langjährige russische Intervention habe die Ukraine in immer größere Abhängigkeit von russischer Energie gebracht. Die ukrainische Oligarchie habe den Energiesektor mehr und mehr der öffentlichen Kontrolle entzogen und dazu benutzt, sich die Taschen zu füllen. Deshalb fordert die Gewerkschaft die Überführung der Energievorkommen in öffentliches Eigentum.
Serhiy Kubanskyj und Oksana Slobodiana sind im Gesundheitssektor gewerkschaftlich aktiv. Sie berichteten, Gesundheitsarbeiter in den besetzten Gebieten seien gezwungen worden, ihre Gewerkschaft zu verlassen und russischen Gewerkschaften beizutreten. Dies war verbunden mit der Aufforderung, die Beschäftigten sollten neue, schlechtere Arbeitsverträge unterschreiben.
Einigen Beschäftigten gelang es, Kontakt zu ihrer ehemaligen Gewerkschaft aufzunehmen. Sie fragten, was sie tun sollten: ihr Leben riskieren, indem sie sich weigern, oder am Ende als Kollaborateure dastehen, wenn die ukrainischen Streitkräfte zurückkehren? Die Mitglieder der Gesundheitsgewerkschaften haben die internationale Gewerkschaftsbewegung aufgefordert, die russischen Gewerkschaften für ihre Komplizenschaft in diesem Fall zu verurteilen.
Vier Fünftel der Beschäftigten im Gesundheitssektor sind Frauen. Sie kämpfen mit Löhnen, die unter dem Durchschnitt liegen, und das Gesundheitswesen ist aufgrund der Sparpolitik unter der Last der Pandemie zusammengebrochen.
Wolodymyr Selenskyj hat einen Präsidentenerlass herausgebracht, die Löhne und Gehälter der Beschäftigten im Gesundheitswesen anzuheben, aber die Kürzungen im Gesundheitshaushalt haben es nicht erlaubt ihn umzusetzen. Medizinische Ausrüstung und Medikamente werden dringend benötigt. Pflegerinnen organisieren sich selbst auf einer Facebook-Gruppe, die 8000 Personen umfasst.
Jana Wolf ist Mitglied der ukrainischen feministischen Gruppe Bilkis. Vor der Invasion lebte sie in Charkiw, nun ist sie in den Westen der Ukraine umgesiedelt. Einige Mitglieder der Gruppen tun Dienst in den Streitkräften.
Der Krieg hat tiefgreifende Auswirkungen auf ihr Leben. Die russischen Invasionstruppen haben sexuelle Gewalt als Kriegswaffe eingesetzt und enormes Leid und Traumata verursacht. Der Zugang von Frauen zu Abtreibung ist alles andere als garantiert. Obwohl Abtreibung in der Ukraine legal ist, können diejenigen, die versuchen, eine solche zu bekommen, sozial geächtet und mit religiösen Vorurteilen konfrontiert werden, selbst nach einer Vergewaltigung durch Soldaten.
Zu ihrem Unglück müssen viele Ukrainerinnen, denen die Flucht nach Polen gelingt, feststellen, dass in diesem Land Abtreibung tatsächlich verboten ist. In Polen ist selbst die «Pille danach» nicht mehr erhältlich.
Die Militarisierung der ukrainischen Gesellschaft hat Männer ermutigt, Frauen zu missbrauchen. Wenn Männer in die Armee eintreten, erhalten sie nicht nur eine Uniform. Sie erhalten auch ein Gefühl der Macht. Und dazu gehört auch ein Gefühl der Macht über Frauen. Frauen und Kinder haben oft mit den Folgen der Rückkehr traumatisierter Männer von der Front zu kämpfen. Wenn sie nach Hause zurückkehren, kann sich ihr Trauma in Aggression und Hass verwandeln. Frauen, Kinder und Mütter leiden darunter. Gewalt erzeugt Gewalt.
Iryna Jusyk sprach über die katastrophale Situation von Frauen im besetzten Cherson – abgeschnitten von Einkommen und von Partnern, die verschwunden oder dem Alkoholismus verfallen sind. In Kampagnen versuchen sie, finanzielle Mittel für diese Frauen zu erhalten, die verschuldet sind und dringende Rechnungen zu begleichen haben. Ihre Organisation ist jedoch gespalten: Einige kämpfen in den Streitkräften, andere sind noch zu Hause. Sie zählt auf Freiwillige.
Marta Chumalo von der Gruppe Frauenperspektiven beschrieb, dass Frauenhäuser vor den heranrückenden russischen Truppen schließen mussten. Die Lebensbedingungen vieler weiblicher Flüchtlinge, einschließlich derer, die nach Lemberg geflohen sind, bilden einen Nährboden für häusliche Gewalt und Unterdrückung.
Juljana Ustinowa von der LGTB-Gruppe KSENA berichtete von Menschenhandel während des Krieges. Während des Krieges haben viele Ukrainer ihre Arbeit verloren, aber sie hatten Schulden, die sie bezahlen mussten. Viele Menschen brauchen ein Einkommen, und im Ausland gibt es eine starke Nachfrage nach billigen inoffiziellen Arbeitskräften. Die Konsequenzen liegen auf der Hand…
Der Krieg hat die Situation noch verschlimmert. Viele werden sexuell ausgebeutet. Andere werden in «inoffizieller» Arbeit beschäftigt. Die «Agenturen», die diesen Arbeiter:innen bei der Job- oder Wohnungssuche helfen, ziehen ihnen oft Geld ab und verschieben sie dann woanders hin. Die Arbeitsbedingungen sind oft schrecklich. Ohne Papiere gibt es kaum Möglichkeiten, gegen den Chef vorzugehen.
Viele Frauen melden sich freiwillig, um gegen die Russen zu kämpfen; der Frauenanteil in den Streitkräften ist auf 16 Prozent gestiegen. Sie widersetzen sich Versuchen der Armee, sie in kampffernen Rollen einzusetzen. Unterdessen ermöglichte der Exodus von Flüchtlingen in die sichereren Städte der Westukraine, dass zuvor verstreute Aktivisten neue Verbindungen knüpfen konnten. Lwiw ist dabei zu einem improvisierten Zentrum für feministische und LGBT-Aktivist:innen geworden. In Kiew stimmt ein feministisches Kollektiv, das für die Rechte von LGBT kämpft, jeden Monat darüber ab, welcher Militäreinheit sie eine Spende zukommen lassen wollen.
Der Autor ist Vorstandsvorsitzender des «Institut Marcel Liebman» in Brüssel.
Der vollständige französische Text findet sich auf der Seite: www.institut-liebman.be/index.php/2022/05/18/je-reviens-dukraine-compte-rendu-par-jean-vogel/.
Die Webseite des Europäischen Netzwerks Solidarität mit der Ukraine ist: https://ukraine-solidarity.eu/ukraine-social-justice-news-1.
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