Organizer:innen und Gewerkschaftshauptamtliche schauen anders auf den Betrieb als Betriebsaktive
von Torsten Bewernitz
Von September 2021 bis April 2022 führte die Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt eine Untersuchung über den Stand der Bewegung in den Betrieben durch. Im Rahmen der Studie wurde auch eine kleine Online-Umfrage durchgeführt, die 37 Aktive aus Betriebsgruppen (im folgenden «Interne») und 13 Organizer:innen und Gewerkschaftshauptamtliche (im folgenden «Externe») beantwortet haben.
Unter den Antwortenden gibt es einen Überhang von studentischen und Hochschul-Aktivist:innen und dementsprechend einen Überhang von Ver.di-Mitgliedern. Die Befragten kommen aus den Bereichen Hochschule, IT, Callcenter, Krankenhäuser, Onlineversand, Gastronomie, Persönliche Assistenz, Metallindustrie, Schule, Jobcenter, Post, Telekom, Einzelhandel, Sicherheitsbranche und Gebäudereinigung.
Torsten Bewernitz von der Redaktion express hat die Studie für die Stiftung durchgeführt und fasst die Ergebnisse der Befragung für die SoZ zusammen. Ein erstes kurzes Fazit ist im express 5/2022 zu finden.
Was tun betriebliche Gruppen?
Die Fragen zu betrieblichen Themen bewegten sich auf zwei verschiedenen Ebenen: Zum einen wurde nach den tatsächlichen Themen des betrieblichen (bzw. gewerkschaftspolitischen) Alltags gefragt, zum anderen nach der Relevanz von betrieblichen Themen. Darauf antworteten Gewerkschaftssekretär:innen und Organizer:innen durchaus anders als Betriebsaktive: Bei den Externen standen die Themen Betriebsrat und Mitbestimmung deutlich im Vordergrund, bei den Internen steht die Tarifpolitik unangefochten an erster Stelle – hier spielte die zum Zeitpunkt der Befragung aktuelle Kampagne für einen Tarifvertrag für studentische Hilfskräfte eine wesentliche Rolle.
Betriebsratsmobbing wird von den Externen fünfmal so häufig genannt wie bei den Internen. Beide Gruppen benennen mehr als einmal die Befristungen (auch hier spielen die Hochschulangehörigen eine wesentliche Rolle). Die Internen wiederum nennen das Thema Arbeitszeit bzw. Entlastung achtmal, die externen nur zweimal, den Arbeits- und Gesundheitsschutz viermal und die Umsetzung der Corona-Regelungen zweimal, während das Thema Gesundheitsschutz bei den Hauptamtlichen gar keine Rolle spielt.
Die Externen wiederum nennen die Themen Organizing, Antirassismus und feministische Belange mehr als einmal, betriebsalltägliche Themen hingegen wie Parkplätze, Arbeitskleidung, Überwachung, Personalmangel, Mobbing (allgemein, nicht auf Union Busting bezogen), Outsourcing und Verlagerung oder als allgemeineres Thema prekäre Beschäftigungsverhältnisse nur einmal.
Unter den Internen ist die Selbstwahrnehmung der Themen, die sie behandeln, teilweise ganz anders. Auch sie nennen zweimal Organizing. Das Thema hat im Betrieb sogar noch mehr Bedeutung, wenn wir ähnliche Antworten hinzuziehen: «Gewerkschaft politisieren», «die Gewerkschaft im Betrieb vertreten» und «Vermittlung gewerkschaftlicher Methoden».
Dann aber wird es branchenspezifisch: Vor allen Dingen Beschäftigte aus den Hochschulen und aus Krankenhäusern nennen sehr branchenspezifische Aspekte; gleiches gilt für prekäre Beschäftigungsverhältnisse, in der die individuelle und meist juristische oder Ämterhilfe im Vordergrund steht.
Die Internen benennen jedoch auch allgemeinere Themen, die spezifisch gemeint, aber verallgemeinerbar sind: Lohn, Unternehmenstransformation, Personalfragen, Arbeitsbedingungen, Arbeitsverdichtung, Stellenstreichung, Digitalisierung, Überlastung, Jugendarbeit, Datenschutz, (Betriebs-)Rente, Sozialpolitik, Integration von behinderten Beschäftigten, Standorterhalt.
Schließlich werden noch ganz abstrakte Themen genannt, da treffen sich Interne und Externe tendenziell wieder: Etablierung von Solidarität, Antidiskriminierung/Diversität, Sozialpolitik, Aktivismus gegen Rechtsextremismus und für Klimaschutz sind so überbetriebliche Themen. Zu guter Letzt wird auch das Thema «Streik» genannt.
Was halten sie für wichtig zu tun?
Dem gegenüber stehen die Themen, die Interne wie Externe für relevant halten. Externe unterscheiden klar zwischen den tatsächlich behandelten und den ihres Erachtens wichtigen Themen. «Kapitalismuskritik» ist hier die Ausnahme, aber Anerkennung/Wertschätzung, Gesundheit und auch Organizing werden vielfach genannt. Die Internen dagegen nennen als wichtige Themen die Themen, zu denen sie auch tatsächlich arbeiten.
Eine Ausnahme bilden die Betriebsaktiven aus dem Bildungsbereich. Hier geht es bei den «wichtigen Themen» manchmal abstrakt zu, wichtig sind dann etwa historische Bildung oder aktuelle Diskurse oder aber auch ganz abstrakte Aspekte wie «solidarische Kultur», «Interaktion» oder «klare Grenzen und rote Linien». Die Klimafrage und der Gesundheitsschutz ragen heraus als Themen, die für viel relevanter gehalten werden als sie im Alltag bearbeitet werden.
Das Spektrum der Betriebs- und Branchenprobleme sowie allgemeinen Themenstellungen, die für relevant erachtet werden, ist breit: Prekarität, Stress/Druck, Mitbestimmung, Lohn, Arbeitszeit, Betriebsklima, Outsourcing, Tariffragen, Befristung, Fortbildung, Urlaub, Befristungen, und reicht bis zu anspruchsvollen politischen Forderungen (Umverteilung). Dabei wird deutlich, dass in den prekäreren Bereichen vorwiegend die Kenntnis der eigenen Rechte, Kündigungsschutz und Union Busting für relevant gehalten werden. An einer Stelle wird dies auch mit gewerkschaftlicher Strategie verknüpft: «wodurch das Verständnis, wozu Gewerkschaften da sind, entsteht».
Die Anforderungen an die Gewerkschaften sind recht konkret: mehr demokratische Kontrolle und Transparenz bei Tarifkommissionen, Transparenz, frühzeitige Information, Beteiligung an Ideenentwicklung, Kummerkasten für Probleme bzw. Ansprüche.
Viele Interne räumen dem Organizing eine zentrale Stellung ein. Dazu gehören Äußerungen wie: «Verbindungen zu anderen Betrieben und Aktiven außerhalb des Betriebs», «Stellenwert der Gewerkschaften hervorheben, Impulse auch mit Bezug auf politische Ereignisse», «Organisierung, unabhängige Strukturen, kritische Gewerkschaftsarbeit, Solidarität herstellen», «Soli zwischen Kern- und Randbelegschaften; Konflikt- und Streikstrategien», «Machtressourcenaufbau, Betriebsanalyse, Öffentlichkeitsstrategie» oder «Gewerkschaft als Basisgewerkschaft im Betrieb stärken und definieren».
Teilweise ist dies mit konkreten strategischen Vorstellungen verbunden: «Kenntnisse der betrieblichen Abläufe, Hierarchien, von Verbündeten und Gegner:innen im Betrieb». Nicht wenige Engagierte an der Basis machen sich mithin intensiv Gedanken um gewerkschaftliche Strategien.
Der Blick auf die Gewerkschaften
Aus einem betriebs- oder branchenspezifischen Bedürfnis entstehen oft ganz einfache Ansprüche an die Gewerkschaften: «Übersetzung, Briefe aufsetzen, Ämter- und Gerichtsbegleitung», oder: «Beratung für betriebliche Konflikte, Kontakte nach außen, digitale schwarze Bretter, Öffentlichkeitsarbeit, Skandalisieren der Vorfälle»…
Natürlich geht es auch um die Unterstützung von Betriebsräten bzw. bei deren Gründung, «Hilfe bei BR-Mobbing». Mehrere Befragte wünschen sich schlicht mehr Unterstützung oder auch Anwesenheit (im Betrieb) durch Hauptamtliche. Die Aktiven wollen die Zeit der von ihnen bezahlten Hauptamtlichen: «schnelle Antworten auf strukturelle/rechtliche Fragen», Unterstützung bei Moderation und Diskussion, «mehr Verlässlichkeit u.a. in der Tarifarbeit».
Groß ist auch das Bedürfnis nach der einen oder anderen Form von Bildung, angefangen mit technischen Schulungen: «Websiten bauen und designen» über «Schulungen im Projekt- und Kampagnenmanagement bzw. in der Planung, Zeitmanagement, Einführungen ins Arbeitsrecht» bis hin zu Weiterbildung und «regelmäßige Bildungsangebote».
Dieser Bildungsanspruch schließt auch Organizing-Kompetenzen ein: «Ich denke, dass wir mehr Organizing-Training brauchen (insbesondere One-on-ones). Außerdem arbeiten große Teile der Telekom in Deutschland im Homeoffice. Wir brauchen Ansätze, wie wir unter diesen Bedingungen bestmöglich Gewerkschaftsarbeit machen können.»
Im Organizing verbinden sich die Ansprüche an die eigene Gewerkschaft mit dem Bestreben, im Betrieb Gewerkschaft neu und anders und in einem gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang zu denken: Materialien «zum Zusammenhang zwischen Arbeit, Kapitalismus, Digitalisierung und Klimawende» wünscht sich jemand; zu «Themen, die an der Schnittstelle Umweltpolitik/Arbeitswelt angesiedelt sind, z.B. Green New Deal (was gibt es für Konzepte, sind sie realistisch im Kapitalismus?), was könnte sozial-ökologische Transformation bedeutet, wie kann sie gelingen, was bedeutet das für die Betriebspolitik, gibt es Beispiele (wie Bosch)? Aus anderen Ländern? Was können Betriebsräte / Vertrauensleute konkret zum Thema Umweltpolitik tun?»
Über den Tellerrand hinaus
An dieser Schnittstelle finden wir die Aspekte, wo die Arbeit des kritisch-solidarischen, linken Gewerkschaftsumfelds beginnt: «Was sicherlich immer eine Schwäche der DGB-Gewerkschaften ist, ist das Führen von Auseinandersetzung als gesellschaftliche Kämpfe und nicht nur als rein betriebliche. «Vernetzung» ist hier ein Kernaspekt: «Austausch, Diskussion von guten, gelungenen Ansätzen und Strukturen. Unabhängig von bürokratischen Gewerkschaftsstrukturen. International Vernetzung und Austausch. Vielfältige und undogmatische Diskussionen».
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