Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 07/2022

Der Tarifabschluss im Sozial- und Erziehungsdienst ist unzulänglich
von Antonia Wolf

«Mehr braucht mehr» lautete das Motto der Ver.di-Kampagne zur diesjährigen Tarifrunde im Sozial- und Erziehungsdienst (SuE). Das zweite «mehr» bezog sich vor allem auf mehr Personal: Verbessern sich die Arbeitsbedingungen, so die Hoffnung, entscheiden sich mehr Menschen für diese Berufe. Das abschließende Ergebnis kann dazu aber kaum beitragen, zu wenig weitreichend ist es und zu wenig eingebettet und abgesichert.

Ein errungenes Entlastungsinstrument ist die «2+2-Regel»: zwei zusätzliche «Regenerationstage» jährlich sowie die Möglichkeit, eine neu gewonnene Zulage von 180 Euro monatlich in zwei weitere Entlastungstage umzuwandeln. Mona, eine Kollegin aus Kassel, sagt dazu: «An sich ein guter Ansatz, aber was bringen mir zwei zusätzliche freie Tage, wenn ich an den anderen Tagen noch mehr ausbrenne? Eine grundsätzliche Arbeitszeitverkürzung würde mehr Entlastung bringen.» So bleibt die Arbeit an den überlasteten Kolleg:innen hängen. Und rechnet man zwei volle Arbeitstage auf das Jahr, erhalten die Beschäftigten nur eine Verkürzung von sieben Minuten am Tag. 
Ein weiteres Entlastungsinstrument ist die Anhebung der Vorbereitungszeit von 19,5 auf 30 Stunden pro Jahr. Auch hier ist wenig Wirkung zu erwarten. Beschäftigte können diese Vorbereitungszeit in der Regel aus Personalmangel nicht wahrnehmen, sondern erledigen Vor- und Nachbereitung parallel zu anderen Aufgaben. Für die Arbeitgeber:innen bleibt das bisher ohne Konsequenzen und auch der neue Tarifvertrag sieht keine dementsprechenden Regelungen vor. Frustrierend ist ebenso die weitere Ausklammerung der Behindertenassistenz aus dem gesamten Tarifgefüge des SuE.

Die alten Forderungen bleiben
Die Ergebnisse des Tarifvertrags enthalten also kaum mehr als reine Symptombekämpfung. In Gesprächen nennen Beschäftigte immer wieder drei Punkte, die ihrer Meinung nach für echte Entlastung angegangen werden müssen: Arbeitszeitverkürzung, kleinere Gruppen und eine Verbesserung der Einstellungspraxis. Noch immer überwiegen in allen Berufsgruppen des SuE befristete Verträge. Auch bei den aktuellen Ausbildungsbedingungen, vor allem für Erzieher:innern, herrscht Handlungsbedarf.
Keines dieser Probleme, die die Beschäftigten schon seit Jahren benennen, wird durch das Ergebnis wirklich angegangen. Teilweise liegt das an einem schlechten Tarifergebnis, teilweise werden diese Punkte aber auch in anderen Tarifverträgen behandelt.
Vor diesem Hintergrund ist das schnelle Einlenken der Verhandlungskommission fraglich. Tanja, die ebenfalls als Erzieherin in Kassel tätig ist, fragt sich, warum «einfach aufgegeben» wurde. Ver.di zeigte von Anfang an mit Verweis auf die letzte SuE-Tarifrunde 2015 eine geringe Risikobereitschaft. Damals sah die Gewerkschaft sich mit Blick auf schwindende Streikkassen und mangelndem gesellschaftlichen Rückhalt zu einem schlechten Kompromiss mit der Vereinigung der Kommunalen Arbeitgeber (VKA) genötigt. Bei den Beschäftigten führte das zu Frust und Wut.
Auch in diesem Jahr zeigte sich die VKA gegenüber den gewerkschaftlichen Forderungen uneinsichtig und glänzte mit der Relativierung der schlechten Bedingungen. Das wohl überraschendste Argument war die Behauptung, Erzieher:innen seien «Spitzenverdiener» im Vergleich zu anderen Ausbildungsberufen im öffentlichen Dienst. Doch auch die mediale und politische Thematisierung der Tarifrunde ließ zu wünschen übrig. Eine positive Ausnahme bildete die bundesweit agierende feministische Streikbewegung, die schon im Februar in 25 Städten zu Solidaraktionen aufgerufen hatte. So fand der erste Warnstreik am 8.März statt, und vielerorts demonstrierten Beschäftigte und Aktivistinnen Seite an Seite.
Diese Politisierung von Care-Berufen seitens der feministischen Bewegungen muss für kommende Arbeitskämpfe im SuE unbedingt fortgeführt werden. Es ist nicht hinnehmbar, dass eine weitere Tarifrunde ohne einschneidende Verbesserungen für die Beschäftigten vorbeigeht. Dafür bedarf es auch einer politischen Analyse sowohl von Gewerkschaften als auch von linken Bewegungen, denn es muss deutlicher werden, dass es Care-Berufe sind, die die Gesellschaft sozial und ökonomisch tragen. Ohne dieses Bewusstsein gehen die Arbeiter:innen und die Hauptamtlichen der Gewerkschaft erneut nur mit dem Selbstbewusstsein in den Kampf, welches ihnen die jetzigen gesellschaftlichen Verhältnisse zuschreiben.

Die Autorin ist Teil des feministischen SuE-Solibündnisses in Kassel und Erzieherin in einer städtischen Kita.

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