›Es war ein harter Kampf‹
Interview mit Manuela Royo
Manuela Royo Letelier vom Verfassungskonvent ist Anwältin, Historikerin sowie Aktivistin und Sprecherin der Bewegung Modatima, die sich in Chile für Wasser und Umweltschutz engagiert.
Am 4.Juli hat der Verfassungskonvent seinen fertigen Entwurf für eine neue Verfassung an Chiles Präsidenten Gabriel Boric übergeben. Am 4.September stimmen die Bevölkerung in einem verpflichtenden Referendum darüber ab.
Das vergangene Jahr über haben Sie an der neuen Verfassung gearbeitet. Wie bewerten Sie diese Arbeit?
Wir haben viel geschafft, finde ich! Wir haben nicht nur eine neue Verfassung geschrieben, sondern den Konvent auch zu einer Plattform der politischen Debatte gemacht. Denn wir wurden nicht gewählt, um uns um Machtpositionen zu streiten. Uns ging es darum, der Ernährungssouveränität, dem Saatgut, den Flüssen den gleichen Rang einzuräumen wie der öffentlichen Ordnung und Sicherheit. Dazu gehört auch die Sorge füreinander. Es ging nicht ums Regieren wollen, im Gegenteil: Wir wollen ein gerechteres Chile und in einer besseren Gesellschaft leben.
Konnten Sie andere Konventsmitglieder von diesen Ansichten überzeugen?
In Gesprächen und Verhandlungen haben wir es geschafft, Überzeugungsarbeit zu leisten und wichtige Punkte durchzubringen. Da ging es z.B. um das traditionelle Verständnis vieler Linker, dass man soziale Rechte nur durch die Ausbeutung natürlicher Ressourcen finanzieren könne. Wir aber sprechen nicht einmal von natürlichen Ressourcen, sondern von Gemeingütern.
In der Umweltkommission haben sie erst einmal alle unsere Vorschläge abgelehnt. In den Zeitungen wurde sich über uns und unsere post-extraktivistischen Ideen lustig gemacht. Wir seien doch nur Hippies. Wir haben also gleich an zwei Fronten gekämpft: einerseits mit Klimawandelleugnern von der konservativen Rechten, andererseits, und das war traurig, mit Linken, die der Meinung waren, unsere Auffassung sei doch nur Mystik. Dabei sind es wissenschaftliche Fakten: Dass uns das Wasser ausgeht, hat sich doch niemand ausgedacht. Es war ein harter Kampf, aber am Ende kamen viele unserer Vorschläge knapp durch. Insgesamt fühle ich, dass in dem Prozess Legitimität erreicht wurde.
Welchen Stellenwert hat die Umwelt in der neuen Verfassung?
Einen sehr großen. Schon im ersten Artikel der Verfassung steht, dass Chile ein ökologischer Staat ist, zu dessen wichtigsten Werten der Respekt vor den Rechten der Natur und unserer Abhängigkeit von ihr zählen. Damit ist gemeint, dass die Natur keine Ressource ist, aus der wir unbegrenzten wirtschaftlichen Vorteil für Wachstum ziehen können. Die Natur hat Rechte, die der Staat und die Menschen respektieren und gewährleisten müssen. Deshalb haben Themen wie Ernährung und Wasser genauso große Bedeutung wie wirtschaftliche Stabilität. Schließlich ist es die erste Verfassung, die vor dem Hintergrund des Klimawandels geschrieben wurde.
Außerdem wurden unterschiedliche Arten natürlicher Gemeingüter festgelegt – etwa jene, die sich Menschen aneignen können, wie Urwälder und Feuchtgebiete. Diese werden unter den Schutz des Staates gestellt. Man kann bspw. ein Stück Land mit Urwald kaufen, ihn jedoch nicht einfach abholzen, denn das schadet der Natur. Und dann gibt es noch Gemeingüter, die sich niemand aneignen kann: Wasser und Luft.
Wie sollen diese Prinzipien konkret umgesetzt werden?
Es gibt Richtlinien für den Schutz von Feuchtgebieten und Urwäldern, Wasserkreisläufen und Gletschern. Bergbauaktivitäten in diesen Regionen würden verboten werden. Ein Flächennutzungsplan soll die Bodennutzung neu organisieren, damit sich die Ökosysteme erholen können. Die meisten Flächen werden derzeit für Abbautätigkeiten genutzt, darunter Bergbau, Forstwirtschaft und Energie.
Es ist wichtig, konkrete Institutionen zu schaffen. Und es muss es möglich sein, die zugesicherten Rechte auch einzufordern. Bei reinen Zusicherungen zu bleiben, ist sehr gefährlich. Es braucht auch eine praktische Ebene und konkrete Regeln.
Sind denn im Verfassungsentwurf konkrete Institutionen vorgesehen?
Wir haben durchgebracht, dass es Umweltgerichte in allen Regionen des Landes geben wird. Bisher gab es nur drei. Und es war so: Wenn jemand deinen Fluss verseucht und du willst juristisch dagegen vorgehen, hast du keinen Anspruch auf kostenlosen Rechtsbeistand. Wir fanden, das verletzt viele Rechte. Wir wollen auch nicht, dass es von einer NGO abhängt, wer vor Gericht gehen kann. Der Staat ist dafür zuständig, die Natur und die Gemeinschaften zu verteidigen. Deswegen haben wir die öffentliche Ombudsstelle für Natur geschaffen, die diese rechtliche Vertretung gerichtlich und außergerichtlich kostenlos übernehmen wird.
Welche Bestimmungen enthält die Verfassung zum Thema Wasser?
Wir haben ein Wasserstatut in der Verfassung verankert, in dem festgelegt ist, dass mit Wasser nicht gehandelt werden kann. Es wird Nutzungsrechte geben, die sowohl eine soziale als auch eine ökologische Funktion erfüllen müssen. Wir haben einen institutionellen Rahmen entwickelt, der für die Vergabe der Wassernutzungsrechte auf der Grundlage dieser Prinzipien verantwortlich sein wird. Dieser Rahmen sieht auch die Einrichtung von Räten für Wassereinzugsgebiete vor, bei denen es sich um gemeinschaftliche und partizipative Gremien handelt, die Entscheidungen über Wasser treffen. Außerdem wird das Trinkwasser in ländlichen Gebieten geschützt. Dort haben bisher die meisten Gemeinden kein fließendes Wasser und keine Abwassersysteme. Die neue Verfassung sieht hier die Gründung von Wassergenossenschaften vor.
Unter welchen Bedingungen haben Sie im Konvent an der Verfassung gearbeitet?
Es war ein schneller und selbstverwalteter Prozess, denn die Regierung hat uns keine Ausstattung zur Verfügung gestellt, nicht einmal einen Stift oder einen Schreibtisch. Wir hatten z.B. einen Raum von etwa 12 qm für zwölf Teams, ohne Klimaanlage und Heizung. Die Delegierten konnten nirgendwo sitzen, keine Treffen abhalten. Es gab einige Gemeinschaftsräume, die reserviert werden konnten, aber die befanden sich weiter weg.
Am Ende hat dieser Prozess gigantische persönliche Belastungen verursacht. Viele Delegierte erzählten, dass ihre Kinder an Depressionen leiden, weil sie ihre Mütter und Väter nie sahen – bis hin zu Suizidversuchen. Hinzu kam noch der Druck aus Medien und Politik und die fast tägliche Arbeit bis zwei Uhr morgens. Wir sind direkt von der Pandemie in den Konvent gekommen: mit hoher Arbeitslast und der wenigen Unterstützung, die wir hatten. Das bedeutete viel Stress und viel Gewalt.
Gewalt?
Ja, während des Verfassungsprozesses habe ich viel Gewalt erlebt. In den sozialen Netzwerken bekam ich teilweise 300 Nachrichten am Tag, die mir Angst machen sollten. Vor ein paar Monaten erhielt ich eine schreckliche Morddrohung. Letztlich wollen sie, dass wir schweigen. Aber das tue ich nicht, im Gegenteil: Ich habe alles öffentlich gemacht.
Welche Strategien wendet der rechte Flügel derzeit an, um die Verabschiedung der neuen Verfassung zu verhindern?
Sie schüren überall Misstrauen und verbreiten Fake News. In den Straßen von Santiago hängen Plakate mit Slogans wie »Die Verfassung ist eine Lüge«. Der Senator Felipe Kast hat im Radio die schamlose Lüge verbreitet, die Verfassung würde Abtreibung bis zum neunten Monat erlauben. Das geht jeden Tag so. Es ist psychologische Kriegsführung.
Wie bereiten Sie sich auf das Referendum vor?
Wir setzen darauf, die Basis zu mobilisieren. Da wir in Lateinamerika die Dinge immer in letzter Minute erledigen, hoffen wir, dass es in den verbleibenden zwei Monaten eine große soziale Mobilisierung geben wird. Dabei zählen wir auf die bestehenden Netzwerke: Bewegungen, Gewerkschaften und so weiter.
Glauben Sie, dass das Apruebo, also das »Ja« zur Verfassung, gewinnen wird?
In Chile gibt es viele Menschen, die rechts sind. Historisch betrachtet lag das Wahlergebnis aber meist bei 60 zu 40 für die Linke. So war es beim Referendum über die Absetzung Pinochets und auch jetzt bei Borics Wahl. Es gibt noch eine große Zahl von Unentschlossenen und wir glauben, dass sie für die Verfassung stimmen werden, sobald sie wirklich wissen, was in ihr steht. Aber wir haben nur noch sehr wenig Zeit und wenig Geld.
Quelle: Nachdruck von der Seite der Lateinamerika-Nachrichten, mit freundlicher Genehmigung. Von der Redaktion leicht gekürzt (https://lateinamerika-nachrichten.de/artikel/es-war-ein-harter-kampf/).
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