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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 09/2022

Kurze Geschichte der Preis-Profit-Inflation
von Ingo Schmidt

Inflation ist in aller Munde. Die Medien liefern den notwendigen Gesprächsstoff. In unzähligen Beiträgen werden die Inflationstreiber vorgeführt: Zentralbanker, Gewerkschaften, Russen und Chinesen. Und gewarnt: Wird denen nicht bald das Handwerk gelegt, wird die Inflation die Realwirtschaft abwürgen. Wie in den 1970er Jahren käme es zu Stagnation plus Inflation, kurz: Stagflation. Die historischen Vergleiche sind schief.

Böse Zentralbanker, Gewerkschafter und fremde Mächte
Zentralbanker stehen ganz oben auf der Liste der angeklagten Inflationstreiber. Eine Ausweitung des Geldumlaufs über das Wachstum der Produktionskapazitäten hinaus führe unweigerlich zu Preissteigerungen. Der amerikanische Zentralbankchef Jerome Powell habe seine Fehler inzwischen eingesehen und sei mittlerweile auf eine restriktive Geldpolitik umgeschwenkt. Im Gegensatz zu seiner EZB-Kollegin Christine Lagarde, die mit Rücksicht auf ausufernde Staatsschulden der Mittelmeeranrainer angeblich notwendige Zinssteigerungen und das Ende der Anleihekäufe durch die EZB hinauszögere.
Kein Wort davon, dass die Weltwirtschaftskrise 2008 zu einer Depression geworden wäre, hätten die Zentralbanken nicht mit einer superlockeren Geldpolitik gegengesteuert. Auch kein Wort dazu, weshalb der Geldumlauf über ein Jahrzehnt stark zunehmen konnte, die Preise aber kaum stiegen, mitunter sogar zurückgingen. Der theoretisch behauptete Zusammenhang von steigender Geldmenge und Inflation wurde in den Jahren nach 2008 empirisch widerlegt. Erst seit dem Sommer 2020, nach dem Ende der ersten Corona-Lockdowns, kommt es zu anhaltenden Preissteigerungen.
Ebenfalls der Inflationstreiberei schuldig: die Gewerkschaften mit ihren stets überzogenen Lohnforderungen. Sie zwingen Unternehmen zu Preiserhöhungen. Kein Wort davon, dass die Preise in den letzten Jahrzehnten auch bei niedrigen Inflationsraten stärker als die Löhne gestiegen sind. Auch kein Wort dazu, dass die Preise in den letzten zwei Jahren den Löhnen geradezu davongelaufen sind. Selbst wenn die Forderungen, mit denen Gewerkschaften gerade in ihre Tarifverhandlungen gehen, zu 100 Prozent erfüllt würden, würden die zuvor erlittenen Reallohnverluste nicht ausgeglichen. Die Theorie der Lohn-Preis-Spirale wurde jüngst durch die empirische Realität einer Preis-Profit-Spirale widerlegt.

Die Preis-Profit-Spirale
Und dann sind da noch die fremden Mächte. Unfähig oder unwillig, den Spielregeln des liberalen Welthandels zu folgen, drehen sie, wie Russland, den Gashahn zu oder schicken, wie China, bei jedem kleinen Corona-Ausbruch ganze Städte oder Regionen in den Lockdown. Unterbrochene Lieferketten verringern die angebotene Menge der jeweils betroffenen Güter und sorgen für Unsicherheit in Sachen zukünftiger Verfügbarkeit. Eine günstige Gelegenheit, aktuell verfügbare Mengen zu höheren Preisen zu verkaufen und auf weitere Preissteigerungen zu spekulieren.
Von diesen Krisengewinnen des Handelskapitals ist in den Medien wenig zu hören. Auch die Tatsache, dass die Energiepreise bereits vor dem Ukrainekrieg gestiegen sind und zwischen der Weltwirtschaftskrise 2008 und der Corona-Rezession 2020 zeitweise deutlich höher waren als nach dem russischen Angriff auf die Ukraine, bleibt zumeist unerwähnt.
Es wird auch nicht gefragt, weshalb sich westliche Regierungen, die russische Öl- und Gasimporte stoppen wollen, beschweren, wenn ihnen die russische Regierung in dieser Hinsicht entgegenkommt. Oder weshalb Lockdowns in China schlecht sind, nachdem sie eine Zeitlang im Westen als notwendig galten und auch für die Zukunft nicht ausgeschlossen werden können. Oder ob die Lieferketten, die westliche und chinesische Ökonomien verbinden, vor Corona wirklich reibungslos funktionierten und nicht infolge von Sanktionen und Zölle bereits brüchig waren.
Die Unternehmen, die an der Inflation kräftig verdienen bzw. diese selbst antreiben, tauchen in der Gemeinschaft der Guten, der Bürgerinnen und Bürger der westlichen, sich selbst als liberal identifizierenden Welt unter, als gäbe es nicht auch in dieser Welt Klassenunterschiede und andere Formen sozialer Ausgrenzung.

Geschichte wiederholt sich – jedesmal anders
In Sachen Geldpolitik scheinen die Parallelen klar: Nach einer Zeit laxer Geldpolitik, die Regierungen, Privathaushalte und sogar manche Unternehmen zu verschwenderischen Ausgaben angeregt hat, übernimmt die amerikanische Zentralbank die Führung im Kampf gegen die Inflation. Für die USA geht es schließlich nicht nur um Kaufkraftverluste im eigenen Land, sondern auch um die Rolle des Dollar als internationale Leitwährung. Andere Zentralbanken schließen sich dem Kampf gegen die Inflation an. Nicht zuletzt, um die Wechselkurse ihrer eigenen Währung halbwegs stabil zu halten.
Aber der Charakter der Inflation hat sich dramatisch gewandelt. In den 1970er Jahren waren die Gewerkschaften stark genug, die Reallöhne gegen steigende Preise zu verteidigen. Mehr oder minder dem Wachstum der Arbeitsproduktivität folgend, stiegen sie sogar. Gegen das Bestreben von Unternehmen, ihre Profite mittels steigender Preise zu erhöhen, konnten sie eine Reallohnbarriere errichten, wie die britische Ökonomin Joan Robinson sich ausdrückte.
Diese zu überwinden war das erklärte Ziel der monetaristischen Wende. Hohe Zinsen sollten eine Rezession auslösen, Massenarbeitslosigkeit verursachen und die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften brechen.
Um zu verhindern, dass steigende Beschäftigung im nächsten Aufschwung die Gewerkschaften wieder stärken würde, begannen Unternehmen mit einem grundlegenden Umbau von Produktion und Logistik. Arbeitssparende Technologien wurden eingeführt, Unternehmensteile ausgegliedert und Produktionsabschnitte verlagert. Durch die Einfuhr billiger Fertigwaren aus Ländern des Südens wurde der Angriff auf Löhne und Sozialstaaten im Norden abgefedert. Dafür stiegen die Kosten für Ausbildung, medizinische Versorgung und Wohnen. Langsam genug, um sich in den Inflationsraten, die jährliche Veränderungen ausweisen, nicht niederzuschlagen. Aber stetig genug, um die Kaufkraft der Löhne trotz importierter Billigwaren erheblich zu senken und die Profite des international agierenden Kapitals zu steigern.

Die Börsenkurs-Verschuldungs-Spirale
Ein Teil dieser Profite floss in den Bau von Anlagen, Gebäuden und Infrastruktur, ein anderer wurde zum Kauf von Wertpapieren verwandt. Wertpapierinflation war die Folge. Um einen Dollar oder Euro Gewinn zu machen, mussten immer mehr Dollars oder Euros zum Kauf von Wertpapieren ausgegeben werden. Solange steigende Preise für diese Papiere als Ausdruck steigender Vermögen angesehen wurden, konnten weitere Finanzanlagen über Kredite finanziert werden. Die Börsenkurs-Verschuldungs-Spirale drehte sich immer schneller. Finanzkrisen in der Peripherie öffneten neue Märkte für Kapital aus den Zentren.
Die vom amerikanischen Immobilienmarkt und der Wall Street ausgehende Krise 2008 markierte das Ende des neoliberalen Geschäftsmodells. Nur durch den vollständigen Bruch mit den monetaristischen Prinzipien, die diesem Modell den Weg gebahnt hatten, konnte sie eingedämmt werden. Die Flutung der Finanzmärkte mit Gratisgeld von der Zentralbank wurde zur Überlebensfrage des Kapitalismus.
Aber die Krise machte auch einen Grundwiderspruch des Kapitalismus in seiner neoliberalen Form deutlich: Ausweitung und Beschleunigung der Umsätze an den Finanzmärkten standen dem Bedeutungszuwachs von Immobilien, Infrastruktur, Rohstoffen und Agrarproduktion gegenüber. Der neoliberale Umbau von Produktion und Logistik hatte die Verwertungsbedingungen des industriellen Kapitals erheblich verbessert. Doch nun trieben Grundbesitz und Finanzvermögen mit ihren Grundrenten und Zinsansprüchen das industrielle Kapital in eine Profitklemme. Ihr konnte es längere Zeit durch weiteren Druck auf die Löhne entkommen.
Seit der Krise 2008 eröffnen nun brüchig gewordene Lieferketten einen weiteren Ausweg: die Preis-Profit-Inflation. Schnell nochmal absahnen, bevor der Kampf gegen die Inflation die nächste Rezession auslöst.
Die Formen, in denen Profit erwirtschaftet wird, haben sich gewandelt – und längst ihre Grenzen erreicht. Es wird noch Profit gemacht, gerade die Inflation ist ein glänzendes Geschäft. Aber auch eine Art Schlussverkauf. Ein überstrapaziertes Geschäftsmodell mit selbstzerstörerischen Tendenzen. Davon ist in den Medien nicht die Rede. Denn: Schuld sind immer die anderen.

Ingo Schmidt ist Ökonom und leitet das Labour Studies Program der Athabasca University in Kanada.

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