Was die Pandemie uns über den Wahn der Naturbeherrschung sagt
von Angela Klein
Wolfgang Hien: Eine Revolte der Natur. Gesellschaftskritik in Zeiten der Pandemie. Berlin: Die Buchmacher, 2022. 110 S., 8 Euro
Das Büchlein zählt nur 110 Seiten, doch die haben es in sich.
Die drei Aufsätze, die zwischen März 2021 und März 2022 geschrieben wurden kreisen um die Pandemie und »die fundamentalen Fragen gesellschaftlichen Seins«, die sie aufwirft. Der erste Beitrag beleuchtet die Situation der Arbeiterklasse, vor allem der Pflegearbeiter:innen in der Pandemie; der zweite erörtert die Frage, inwieweit Gesundheitsschutz und Freiheit miteinander im Widerspruch stehen; der dritte Beitrag setzt sich mit dem vom Kapitalismus geformten, naturwissenschaftlichen Weltbild auseinander, das in den selbstzerstörerischen Wahn der Naturbeherrschung mündet. »Die Pandemie muss im globalen Zusammenhang einer Krise der gesellschaftlichen Naturverhältnisse interpretiert werden« – das ist sein Ausgangspunkt.
»Die Geschichte der Pandemien ist eine Geschichte der sozialen und der sozioökonomisch bedingten gesundheitlichen Ungleichheit.« Hien diskutiert das ausführlich am Beispiel des Arbeitsschutzes, der früher einmal richtiger »Arbeiterschutz« hieß. Er sieht ihn als »hochdefizitär«: »Während der private Lebensbereich durch Verordnungen und Regeln stark eingeschränkt und auch polizeistaatlich überwacht wird, erscheint der … viel bedeutsamere Bereich des Wirtschafts- und Arbeitslebens gleichsam als Schonraum.«
Zwar sind sowohl in Deutschland als auch auf EU-Ebene die rechtlichen Rahmenbedingungen für einen guten Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz vorhanden, doch hat der Staat die Gewerbeaufsicht im Zuge des »Bürokratieabbaus« der 90er Jahre rabiat zusammengestrichen. Der Schwerpunkt des Gesundheitsschutzes hat sich danach von der Verhältnisprävention auf die Verhaltensprävention verlagert: d.h. es werden nicht vorbeugend Verhältnisse geschaffen, unter denen eine Gefährdung nicht oder nur erschwert auftreten kann, sondern der Einzelne ist durch sein Verhalten selber dafür verantwortlich,
Diese Zusammenhänge waren und sind einem überwiegenden Teil der Linken nicht bewusst. So konnte sich die neoliberale Vorstellung in die Köpfe fressen, Gesundheitsschutz sei eine vorwiegend individuelle Angelegenheit. Verhaltensmaßregeln des Staates wurden selbst dort als Zumutung wahrgenommen, wo sie sinnvoll waren. Zwischen Sozialstaat und Repressionsstaat wurde kein Unterschied mehr gemacht, im Gegenteil: im Schlepptau einiger postmoderner Philosophen wurde Gesundheitsschutz als »Biopolitik« diffamiert.
Hien sieht hier ein lohnendes Arbeitsfeld für Linke, denn wirklicher Gesundheitsschutz, zumal im Betrieb, sei systemsprengend. Die Arbeit »in all ihren Aspekten neu zu gestalten« – davor haben Gewerkschaften allerdings Angst.
Hien räumt ein, dass Arbeitsschutzverordnungen einen obrigkeitsstaatlichen Beigeschmack haben können. Gewerkschaften und Betriebsräte haben dem häufig nichts entgegenzusetzen, was dazu führt, dass Kolleg:innen solche Maßnahmen als Bevormundung begreifen.
Es gibt aber auch Beispiele, wie in einem partizipativen Prozess ein Verständnis in der Belegschaft geschaffen werden kann, dass krankmachende Arbeitsbedingungen verschärfte Ausbeutung bedeuten, die die Kolleg:innen mit ihrer körperlichen und seelischen Gesundheit zu bezahlen haben.
Hien verweist auf das italienische Beispiel, wo Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz tatsächlich einmal Gegenstand harter Arbeitskämpfe war. Und er gräbt die Ansätze in der deutschen Medizin aus, die die sozialen Bedingungen von Gesundheit hervorheben. Zugegeben, es sind nicht viele: herausragend Virchow, aber auch Grotjahn, Teleky und einige andere.
Hien anerkennt auch, dass eine »Güterabwägung« nötig ist zwischen dem Schaden, der durch die Corona-Erkrankung, und den Schäden, die durch Isolation entstehen. Die Frage ist, wie ein »Vorsorge-, Fürsorge- und Versorgungswesen« aussehen kann, das staatliche Eingriffe erträglich macht.
Hien arbeitet heraus, dass Freiheit »immer an Leib und Körper gebunden« ist, und auch immer nur denkbar ist als »Einstehen für andere« – im Gegensatz zur liberalen Doktrin also nur »soziale Freiheit« wirklich Freiheit ist. Er setzt sich kritisch mit den Positionen etwa von Giorgio Agamben auseinander und landet bei der Frage: »Ist eine Pandemie tatsächlich vollkommen beherrschbar?«
Im Kapitel über die Naturbeherrschung nun zeigt Hien, warum es wichtig ist, philosophisches Wissen für Fragen, die Leib und Seele betreffen, nutzbar zu machen. An Hand von Heisenbergs Begriff der Unbestimmtheit erläutert er, dass Naturereignisse in einem Wahrscheinlichkeitsraum stattfinden, innerhalb dessen sie zufällig, d.h. nicht mit Bestimmtheit vorhersagbar sind. Er verbindet dies mit Adornos Begriff des Nichtidentischen, der besagt, dass keine Sache in einem Begriff eindeutig aufgeht, sondern immer ein Überschuss an Deutbarem bleibt.
Übertragen auf Corona heißt das, dass eine schnelle Beherrschbarkeit der Pandemie eine Illusion ist. Und dennoch gilt es, sich in diesem »Ozean von Unwissenheit« zurechtzufinden. Hien schlägt dafür das Instrument der »verstehenden Vernunft« vor: Wissenschaft soll nicht mehr vom Drang des Beherrschens, sondern vom Bedürfnis des Verstehens getrieben werden.
Das Büchlein gibt Orientierung – das kann man nicht von jedem Buch sagen.
Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen
Spenden
Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF
Schnupperausgabe
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.