Die Finanzialisierung der Lebensmittelrohstoffmärkte und der Klimawandel sind auf Dauer die größten Preistreiber
von David Stein
Seit Anfang August das Abkommen zwischen Russland und die Ukraine über die Getreidelieferungen in Kraft getreten ist und von drei Häfen in Odessa wieder Getreide exportiert werden kann, sinken an den internationalen Rohstoffbörsen die Weizenpreise wieder auf Vorkriegsniveau; Mitte Mai 2022 hatten sie bisher nie erreichte Höhen erreicht. Gleiches gilt für Mais und Raps. Allein die Aussicht auf eine Einigung ließ dies die Preise sinken.
Der europäische Future (Terminkontrakt) verzeichnete Ende Juli einen Tagesverlust von bis zu 5,16 Prozent, der US-Kontrakt an der Chicagoer Börse von 4 Prozent – ein deutliches Zeichen, dass diese Preissteigerungen nichts mit Getreideknappheit zu tun hatten.
Die Fundamentaldaten für die internationalen Lebensmittelrohstoffmärkte haben sich gar nicht wesentlich verändert: Seit über zehn Jahren steigen die Preise für Agrarprodukte trotz mehrerer abrupter Preissprünge kontinuierlich, allein in den letzten zwei Jahren um 40 Prozent. Gleiches gilt für die Preise für Energie und Dünger.
Deshalb ist auch für Millionen Menschen die Gefahr des Hungers nicht gebannt; die Zahl der Hungernden steigt wieder seit 2014, derzeit sind es weltweit etwa 811 Millionen Menschen. Hohe Preise für Agrarprodukte bedrohen zunehmend die Ernährungssicherheit auf der Welt, vor allem in der südlichen Hemisphäre. Die G7-Staaten haben zwar im Juni 2022 auf ihrem Treffen im bayerischen Schloß Elmau unter deutschem Vorsitz eine »Erklärung zur globalen Ernährungssicherheit« verabschiedet, sie entspricht allerdings nicht dem Ernst der Lage und lässt keine Lösungen erkennen. Es wurde ein Hilfspaket von 4,5 Mrd. US-Dollar »für die vom Hunger gefährdetsten Menschen« verabredet.
Ansonsten erschöpft sich das Dokument im abgedroschenen neoliberalen Appell an die Nationalstaaten, die Nahrungs- und Lebensmittelmärkte offenzuhalten und keine restriktiven Handelsmaßnahmen, auch keine nationalen Preiskontrollen, zu ergreifen. Die Verantwortung für die Hungerkrise wird Russland zugeschoben, das »Hunger als Waffe« einsetzen würde. Doch die Ursachen der Welternährungskrise sind komplex.
Vielfältige Ursachen des Hungers
Zu Beginn des Ukrainekrieges wurde auf den Finanzmärkten verstärkt in Agrarfonds investiert und auf steigende Lebensmittelpreise gewettet. Allein in der ersten Märzwoche flossen 4,5 Milliarden Dollar in solche Fonds, die in Lebensmittel investieren. Die Lebensmittelmärkte sind ebenso wie die Märkte für Energie seit den 90er Jahren »finanzialisiert«. Die Gesetzmäßigkeiten dieser Märkte und die Motive der Investoren beeinflussen das Geschehen mit und treiben die Nahrungsmittelpreise in die Höhe.
Spekulative Börsengeschäfte mit Nahrungsmitteln sind allerdings nicht der einzige Grund für den Hunger in der Welt. Konzerne, die den Getreidehandel bestimmen, sind neben ihren Börsengeschäften auch mit Handel mit Weizen und anderen Lebensmittelrohstoffen unterwegs: Sie lagern ihn ein, verknappen dadurch das Angebot und versuchen, ihn bei hohen Preisen auf den Markt werfen. Seit Jahrhunderten ist das eine Variante der Lebensmittelspekulation. Dabei wechselt – anders als an der Börse – echter und nicht nur virtueller Weizen den Besitzer.
Weltweit gibt es keine verlässliche Übersicht der Nationalstaaten, wieviel Getreide in den Silos der Getreidehändler gebunkert wird. Sicher ist nur, dass dies ebenfalls Einfluss auf die Preise hat. Preise steigen, weil Unternehmen und Regierungen befürchten, nicht mehr genug Weizen oder andere Grundnahrungsmittel kaufen zu können. Staaten brauchen deshalb Transparenz, wer über welche Getreidereserven verfügt – nur so kann der Angst der Käufer vor Knappheit und der Spekulation durch physische Hortung von Getreide begegnet werden.
Es kommen allerdings noch andere Ursachen hinzu. Hungerkrisen werden immer stärker durch den galoppierenden Klimawandel ausgelöst, Trockenheit und Starkregen verschlechtern die Böden und reduzieren die Ernten. Weizen verbraucht relativ viel Wasser, insbesondere im Frühjahr, wenn die Halme schnell wachsen, aber auch während der Kornreife im Frühsommer.
Die Länder auf der Südhalbkugel werden von der Weltbank, den Internationalen Währungsfonds (IWF) und der neoliberalen Entwicklungshilfe seit den neunziger Jahren dazu angehalten, lieber Kaffee, Baumwolle oder Kakao für den Export anzubauen, um ihre Schulden zu verringern, anstatt Nahrungsmittel zur eigenen Versorgung. Damit wurden sie stärker von Lebensmittelimporten abhängig. Kleinbäuerliche Produktionsstrukturen wurden vernachlässigt, sofern sie nicht in globale Wertschöpfungsketten eingebunden werden konnten, die Produktivität sollte mit Hilfe von Agrochemie steigen. Befeuert wurde dadurch auch die Finanzialisierung der Landwirtschaft. Hinzu kommt die Aneignung von Agrarflächen durch Agrarkonzerne und Fonds, für die Boden nicht mehr als ein Investitionsobjekt ist.
Die Bedeutung der Spekulation für die Preisssteigerungen
Auch »kritische« Ökonomen streiten über die realen Auswirkungen der Spekulation mit Lebensmittelrohstoffen. Einig sind sie sich heute mehrheitlich darüber, dass ein hohes Maß an Spekulation an den Terminmärkten die Preisbewegungen verstärkt – Preisspitzen lassen sich ohne exzessive Spekulation mit Nahrungsmitteln ansonsten nicht erklären. So gab es nicht immer, wenn die Preise in den letzten Jahren stiegen, auch tatsächlich große Angebotsengpässe auf den realen Märkten. Statt einer Verfügbarkeitskrise dominiert also eine Preiskrise.
Nur ein Bruchteil der Weltagrarproduktion wird auf dem Weltmarkt gehandelt. Aber dort werden die Preise gemacht, die dann weltweit und in den Staaten gelten. Die »Finanzwetten« an den Rohstoffbörsen befeuern die Volatilität der Preise zusätzlich. Finanzinstitutionen handeln an Börsen wie Chicago oder Paris mit Future-Kontrakten über die Lieferung von Rohstoffen zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Zukunft zu einem vorher festgelegten Preis. Die Preissignale dieser Terminmärkte, insbesondere des US-Terminmarkts, dienen dann dem gesamten internationalen Handel als Orientierungspunkte.
Terminkontrakte gibt es schon seit dem 16.Jahrhundert. Für den Produzenten kann es sinnvoll sein, die zukünftige Ernte Monate vorher zu vereinbarten Preisen an Finanzinstitutionen zu verkaufen. Das verschafft ihm Liquidität für den Kauf von Maschinen, neues Saatgut usw. Futures geben den Bauern Planungssicherheit, das Risiko eines Preisverfalls trägt dann die Finanzinstitution, die die zukünftige Ernte erworben hat. Die Händler übernehmen für die Bauern das Kursrisiko, das bei wetterabhängigen Produkten wie Getreide besonders hoch ist. Wer einen »Future« besitzt, hofft, die Waren später für mehr Geld verkaufen zu können, als der Kontrakt gekostet hat – oder ihn vor Ende der Laufzeit gewinnbringend an der Börse zu veräußern.
Seit der Liberalisierung der Warentermingeschäfte in den USA in den 90er Jahren hat der Anteil der Händler, die an den Börsen mit tatsächlich vorhandenen Lebensmittelrohstoffen handeln, allerdings signifikant abgenommen. Heute dominieren Händler, die mit dem Hundertfachen der tatsächlich verfügbaren Menge handeln. Aus Spekulationsgründen. Gegenwärtig sind – zumindest an den US-Märkten – mindestens zwei Drittel der Akteure an den Warenterminmärkten Spekulanten, die untereinander handeln. Diejenigen Händler:innen, die ein reales Absicherungsinteresse haben, sind inzwischen in der Minderheit.
Was tun gegen Spekulation?
Ein Patentrezept gegen Spekulation an Warenterminmärkten gibt es nicht. Ein Bündel von Maßnahmen, um diese zu reduzieren, schon:
Die wichtigste Maßnahme wäre, die Zahl der zu Spekulationszwecken geschlossenen Warenterminkontrakte pro Handelsteilnehmer und Rohstoff wirksam zu begrenzen. Für Warenterminmärkte gibt es zwar seit 2018 die für die Mitgliedstaaten verbindliche EU-Richtlinie MiFID II (Markets in Financial Instruments Directive), die Marktbeeinflussungen durch größere Akteure ausschließen und Preisausschläge verhindern soll. Ein internationaler Standard über die EU hinaus ist jedoch daraus nicht einmal ansatzweise erwachsen. Die Regelungen in der EU-Richtlinie MiFID II sind bisher zu lasch, zu ineffektiv und enthalten eine Unmenge Schlupflöcher. Diese breit genutzten Lücken müssen geschlossen werden.
Im übrigen braucht die Börsenaufsicht umfangreichere Berichtspflichten und zusätzliche Auskünfte der Händler, die eine reales Absicherungsinteresse belegen müssten. Diese Maßnahmen müssten einhergehen mit einer signifikanten Einschränkung des außerbörslichen Handels (außerhalb geregelter Handelsplattformen) und des Eigenhandels. Beide Varianten müssten mit hohen Sicherheitsleistungen unterlegt werden.
Auch eine Transaktionssteuer auf den Rohstoffterminhandel wäre eine sinnvolle Maßnahme, um Spekulation zu reduzieren. Dabei käme die nie umgesetzte, von NGOs wie Attac geforderte Finanztransaktionssteuer zum Tragen, um die es inzwischen still geworden ist. Diese Steuer auf internationale Devisengeschäfte (Tobin-Tax) wurde gefordert, um kurzfristige Spekulationen auf Währungsmärkten eindämmen. Mit derselben Zielrichtung könnte sie für den Rohstoffterminhandel eingesetzt werden.
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