Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 09/2022

Was die Debatte um die documenta ausklammerte
von Helmut Dahmer, Wien

Seit die deutsche Volks- und Mordgemeinschaft 1945 in kollektive Amnesie verfiel, ist – allen Anstrengungen zur »Bewältigung« der Zeit des Nationalsozialismus zum Trotz – das Nicht-wahrhaben-Wollen zu einer Art Volkskrankheit geworden.

Die Jagden auf »Fremde«, die mit der »Wiedervereinigung« einhergingen und denen mehr als hundert Nichtdeutsche zum Opfer fielen, sind vergessen, die alltäglich gewordenen antisemitischen »Vorfälle« werden weder mit den Morden der NSU-Gang, noch mit den Attentaten von Halle und Hanau, noch mit den faschistischen »Chat«-Gruppen in der Polizei, noch mit dem Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Lübcke in Zusammenhang gebracht. Deutschland laboriert weiterhin an seiner unbewältigten Vergangenheit.
Darum gibt es auf der großen politischen Bühne illusorische Garantie-Erklärungen für den Staat Israel und in den Medien wochenlange, mehr oder weniger absurde Diskussionen um antisemitische Motive auf einigen der auf der diesjährigen documenta gezeigten Karikaturen und Bilder von Gruppen aus dem »Globalen Süden«, der dort erstmals repräsentiert sein sollte.
Die Ausstellungsmacher überließen der indonesischen Gruppe ­»Ruangrupa« die Regie, die wiederum der javanischen Gruppe »Taring Padi« die Möglichkeit gab, ihr vor zwanzig Jahren entstandenes, riesiges Bild »People’s Justice« vor dem zentralen Ausstellungsgebäude »Fridericianum« zu installieren. Das Bild, dessen Komposition an ­Picassos »Massaker in Korea« (aus dem Jahr 1951) erinnert, überführt das (von den Westmächten, wie von Westdeutschland und Israel ­gebilligte) »antikommunistische« Massaker des Generals Suharto, dem 1965 mehr als eine Million Menschen zum Opfer fielen, in ­Plakatkunst.
Von diesem Hintergrund »wussten« die documenta-Verantwortlichen so wenig wie ihre indonesischen Gäste vom Holocaust. Dem Exotismus der für die Kasseler Ausstellung Verantwortlichen kam das »Lumbung-Prinzip« (der gerechten Verteilung der Reisernte in indonesischen Dörfern) gelegen, auf das »Ruangrupa« sich beruft und das mit der indonesischen Geschichte der letzten 70 Jahre etwa so viel zu tun hat wie Ernst Wiecherts 1939 erschienener Roman Das einfache Leben mit der Wirklichkeit des ­Hitlerreichs.
Dann aber tauchte inmitten der Kunst des »Globalen Südens« statt der erwarteten Gauguinschen Paradiese unversehens das wohlbekannte eigene Problem auf: die vergessen-verleugneten Fratzen aus Julius Streichers Stürmer, die SS-Runen und das »Mossad«-Etikett auf der Mütze eines der Angreifer. Groß war der Schreck über den zu spät entdeckten Splitter im Auge des Anderen, der so drastisch an den Balken im eigenen gemahnte. Vielleicht dämmert den Erschrockenen aber nun die Einsicht, dass auch der Antisemitismus »global« ist…

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