Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 09/2022

Locarno 2022: Die 75.Ausgabe
von Kurt Hofmann

Im Jubiläumsjahr des Festivals präsentierte sich dieses unaufgeregt, wenngleich in der Programmauswahl vielfältiger und ambitionierter als in der vorangegangenen Saison.

Regra 34 (Brasilien 2022; Regie: Julia Murat)
Der diesjährige Gewinner des Goldenen Leoparden ist ein mutiger und engagierter Film, der die alte Erkenntnis thematisiert, dass das Private politisch ist. Die Jurastudentin Simone betreut Opfer von Missbrauch und häuslicher Gewalt und betont in Diskussionen an der Uni ihre feministische Perspektive. Doch die »private« Simone chattet über ihre sexuellen Vorlieben im Internet, betreibt eine eigene Live Cam Performance, diskutiert mit ihren Freund:innen über ihre Präferenz für SM-Praktiken. Ein Widerspruch? Mitnichten. Denn der usurpatorische (männliche) Übergriff hat nichts mit Simones Recht auf sexuelle Selbstbestimmung zu tun. Simone lotet Grenzen aus und zieht ebenso Grenzen, redet mit anderen, was sie antreibt und versteckt sich nicht: das Private ist politisch.

Serviam – Ich will dienen (Österreich 2022; Regie: Ruth Mader)
Ein katholisches Mädcheninternat in den 1980er Jahren: kleine Intrigen, Übergriffigkeiten gegen einzelne, ansonst Wahren der Disziplin aus Angst vor Sanktionen, wenig Enthusiasmus in Sachen Glauben, aber die eingeübten Parolen haben die Zöglinge allzeit parat.
Doch da ist ein Mädchen, das der jungen, fanatischen Nonne, die alle antreibt, gefallen will: Sie hat sich von ihr zum Tragen eines Bußgürtels überzeugen lassen und zeigt ihrem Vorbild stolz ihre Wundmale. Naturgemäß ist das nicht gesundheitsfördernd; das kranke Kind wird versteckt und isoliert, ist offiziell auf Reisen. Endlose, dunkle Gänge, bedrohliche Musik.
Ruth Mader legt Serviam – Ich will dienen konsequent als Horrorfilm an und der Schrecken spiegelt sich auch im Spiel von Maria Dragus, die als junge Nonne den stets gleichen starren Gesichtsausdruck konserviert – eine nie abzunehmende Maske.
Der Film überzeugt durch Stringenz und dramaturgische Geschlossenheit. Wahrlich: ein starkes Stück.

A perfect day for Caribou (USA 2022; Regie: Jeff Rutherford)
Ein Friedhof in the middle of ­nowhere. Dort sehen Herman und Nate, Vater und Sohn, einander nach Jahren wieder. Herman ist mit seinem Transporter gekommen, auf dem alles, was er benötigt, Platz gefunden hat: von den Alltagsgegenständen über Sperrmüll bis hin zu Erinnerungsstücken. Vor dem Treffen hat er ein Band für Nate besprochen, nicht damit rechnend, dass das Scheidungskind auch eintrifft. Doch Nate kommt und hat sogar seinen sechsjährigen Sohn mitgebracht. Geredet wird nicht viel, doch aneinander vorbei, obgleich die beiden so, wie sie durch die Gegend stolpernd von ihrem Scheitern erzählen, wie eineiige Zwillinge wirken. Irgendwann geht das Kind verlustig, doch das, erzählt Nate, wäre mit dem Jungen, der ein »Loch im Kopf« habe, schon früher mal passiert: er sei dann auf dem Dach eines Hauses gefunden worden.
Der Film ist bestes US-Independent-Kino auf den Spuren von zwei Chaoten, verwandte Seelen allemal…

Before I change my mind (Kanada 2022; Regie: Trevor Anderson)
1987: Der androgyne Robin wird in seiner neuen Schule misstrauisch beäugt – Junge oder Mädchen? Robin setzt sich im Turnunterricht zwischen die getrennten Geschlechter.
Einer, der ihn kurz nach seinem Eintreffen verprügeln will, wird sein Freund. Bis sie beide für ein Mädchen zu schwärmen beginnen, das sich für Robin entscheidet – aber der will seinen Freund auch nicht verlieren. »Was bist du?«, fragt ihn der. Doch Robin zuckt die Achseln.
Before I change my mind ist der so aktuellen Frage der Geschlechtsidentität gewidmet – allerdings 1987 angesiedelt, als derlei noch kein Thema sein durfte.
Wie Robin es mit kindlichem Charme und Chuzpe schafft, sich nicht unterkriegen zu lassen, das wird in Trevor Andersons Coming-of-age-Film sensibel erzählt.

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