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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 09/2022

Die globale Nahrungskrise hat viele Ursachen – keine davon hat mit dem Krieg zu tun
von Frédéric Mousseau*

Im Mai dieses Jahres wurde Indien von der US-Regierung und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) aufgefordert, seine Entscheidung, Weizenexporte zu suspendieren, zu überdenken. Angeblich hätte dies vor dem Hintergrund von Russlands Invasion in die Ukraine die Nahrungsmittelknappheit verschärft. Doch das Argument ist unhaltbar, technisch wie moralisch.

Es gibt keine Nahrungsmittelknappheit. Wie die UN-Organisation für Nahrungsmittel und Landwirtschaft (FAO) am 6.Mai 2022 berichtet, erfreut sich die Welt eines »relativ komfortablen Versorgungsgrads« mit Getreide. Die Weltbank bestätigt das, sie vermeldet, die globalen Vorräte an Getreide hätten historische Höchststände erreicht und drei Viertel der Weizenexporte aus Russland und der Ukraine seien bereits vor Beginn des Krieges ausgeliefert worden. Die Zahlen stimmen mit den Daten des Ukrainischen Landwirtschaftsministeriums überein: Es verlautbarte am 19.Mai, das Land habe in der Saison 2021/22 46,51 Millionen Tonnen Getreide exportiert, gegenüber 40,85 Millionen im Vorjahr.
Wie schon im Jahr der Nahrungsmittelkrise 2007-2008 ist Spekulation der entscheidende Faktor hinter den derzeitigen Preissteigerungen auf den internationalen Nahrungsmittelmärkten. Lighthouse Reports berichtet, »Spekulanten [haben] die Warenmärkte überflutet im Versuch, mit steigenden Preisen Profit zu machen«. Ein starkes Beispiel bieten zwei rohstoffbezogene Exchange Traded Funds (ETFs), die in diesem Jahr (Stand Ende Mai) 1,2 Mrd. US-Dollar für Investitionen sammeln konnten – gegenüber 197 Millionen im ganzen Jahr 2021: eine Steigerung um 600 Prozent.

Nahrung für Tiere und Autos, nicht für Menschen
Laut New York Times waren »Spekulanten im April verantwortlich für 72 Prozent der Käufe an der Pariser Weizenbörse, vor der Pandemie waren es 25 Prozent. Der UNO-Sonderberichterstatter für extreme Armut und Menschenrechte, Olivier de Schutter, sagt zu Recht: »Mächtige internationale Investoren, die sich im allgemeinen nicht um Agrarmärkte kümmern, wetten auf Hunger und verschärfen ihn.«
Die Realität ist: Die Welt leidet nicht unter Nahrungsmittelmangel, sie produziert weitaus mehr als wir essen. Über 33 Prozent der weltweit produzierten Nahrungsmittel gehen in die Tierfütterung oder andere Zwecke, hauptsächlich in Agrosprit. Die USA produzieren jährlich etwa 400 Millionen Tonnen Mais, aber über 40 Prozent davon – 160 Millionen Tonnen – gehen in die Ethanolproduktion, weitere 40 Prozent werden an Tiere verfüttert, 10 Prozent werden exportiert und nur 10 Prozent werden gegessen. Indien hätte 2022/2023 nicht mehr als 10 Millionen Tonnen Weizen exportieren sollen – verglichen mit der US-Produktion ein Klacks.
Immer mehr werden Nahrungsmittel zur Herstellung von Agrosprit verwendet – wie schon in der Krise 2007/2008. Das ist ein weiterer, bedeutender Faktor, weshalb es auf den weltweiten Getreidemärkten zu Spannungen kommt. In einer Analyse von 2009 heißt es: »Obwohl Agrosprit immer noch nur 1,5 Prozent des globalen Angebots an flüssigem Treibstoff ausmacht, ist er für fast die Hälfte des Zuwachses am Verbrauch größerer Ernten 2006/2007 verantwortlich – vor allem wegen der maisbasierten Ethanolproduktion in den USA.« Dort ist die Ethanolproduktion von 3,6 Millionen Barrel in 2001 auf über 102 Millionen in 2019 gestiegen. Obwohl Ethanol mindestens 24 Prozent mehr Kohlenstoff enthält als Benzin, hat die Biden-Administration Schritte unternommen, um noch mehr Ethanol zu produzieren, und fördert es weiterhin massiv.
Die USA machen sich gegen Handelsrestriktionen stark und werden darin von der Weltbank, dem IWF, dem Welternährungsprogramm und der Welthandelsorganisation unterstützt. Sie fordern »alle Länder dringend auf, den Handel offen zu halten und restriktive Maßnahmen wie Exportverbote für Getreide oder Düngemittel zu vermeiden, die das Leiden der verwundbarsten Völker noch verschärfen«.
Wenn Regierungen und internationale Institutionen es aber ernst meinen mit der Beseitigung menschlichen Leids durch hohe Nahrungsmittelpreise, sollten sie es lassen, Länder zu bedrängen, die versuchen, landesweit eine Nahrungsmittelsicherheit aufrechtzuerhalten. Es ist wichtig, dass sie die Nahrungsmittelsouveränität aller Nationen respektieren.

Der Schlüssel zum Erfolg
Eine Sofortmaßnahme, die Länder ergreifen sollten, um den Druck auf die Weltmärkte zu verringern, ist, weniger Nahrungsmittel für die Herstellung von Sprit zu verwenden und die Spekulation mit Nahrungsmitteln einzuschränken – insbesondere auf den sog. Future-Rohstoffmärkten, auf denen Spekulanten auf künftige Preise wetten. Sowohl die USA als auch die EU haben die Instrumente und Mechanismen dafür zur Verfügung: die USA die Commodity Futures Trading Commission, die EU die European Securities and Markets Authority (ESMA). Was fehlt, ist der politische Wille zu handeln.
Woran es nicht fehlt, ist Heuchelei. Die von der US-Regierung subventionierte Ethanolindustrie verbraucht 35 Prozent vom globalen Getreidehandel (473 Millionen Tonnen). Der Exportstopp Indiens, der zum Ziel hat, Hunger zu vermeiden, macht keine zwei Prozent davon aus. Inzwischen zeigen Analysen über die Nahrungsmittelkrise 2007/2008, dass Indien und andere Länder den Handel erfolgreich reguliert haben um verhindern, dass die Preissteigerungen auf den Weltmärkten auf die heimischen Märkte überschwappen. So sinkt derzeit der Preis für Reis in Indonesien, während er in den Nachbarländern steigt. Die Maßnahmen der öffentlichen Hand bestanden aus einem Mix von Handelserleichterungen (etwa Zollsenkungen oder Verhandlungen mit Importeuren) und Handelsrestriktionen bzw. -regulierungen (wie Exportverbote, öffentliche Lagerhaltung, Preiskontrollen, Maßnahmen gegen die Spekulation).
Der Erfolg dieser Maßnahmen hängt vor allem von der Fähigkeit der Regierungen ab, die Verfügbarkeit über Nahrungsmittel im Land zu kontrollieren und die Märkte zu regulieren – oft auf der Grundlage bereits bestehender öffentlicher Einrichtungen. Exportverbote führen möglicherweise zu höheren Preisen auf den globalen Nahrungsmittelmärkten, aber sie waren ein schneller und effektiver Weg, Verbraucher davor zu schützen, dass Preisbewegungen auf den globalen Märkten auf die einheimischen Preise durchschlagen.

Westliche Hilfe?
Doch unabhängig von den Maßnahmen zur Regulierung des Handels, die einige Länder ergreifen, und selbst wenn es keine globale Nahrungsmittelknappheit gibt, ist die Nahrungsmittelkrise real. Dürren, Kriege und nun die hohen Preise bedrohen Hunderte von Millionen Menschen mit dem Hungertod.
Das massive Leid und der Hunger, der in vielen Ländern schon vor dem Krieg in der Ukraine herrschte, haben jedoch kaum adäquate Reaktionen der reichen Länder hervorgebracht. Humanitäre Appelle der UN in akuten Krisen sind chronisch unterfinanziert, in 2021 haben UN-Aufrufe für Jemen und das Horn von Afrika ihr Ziel nur zu 45 Prozent erreicht, der für Syrien nur zu 29 Prozent. Der US-Kongress hat Im Mai eine 40-Milliarden-Dollar-Hilfe für die Ukraine beschlossen, darin sind über 26 Milliarden für Militärhilfe eingeschlossen. Für internationale Hilfsmaßnahmen durch USAID geben die USA in 2022 global nur 28 Milliarden aus.
Angesichts des Kriegs in der Ukraine und angesichts dessen, dass internationale Hilfe chronisch unterfinanziert ist, ist es dringend geboten, dass alle Länder allen Opfern Solidarität und angemessene Unterstützung zukommen lassen. Jenseits von Hilfsmaßnahmen wäre aber die einzige vernünftige Entscheidung, energisch gegen die breiteren Ursachen für die hohen Nahrungsmittelpreise vorzugehen und die Spekulation mit Nahrungsmitteln und deren Verwendung für die Herstellung von Sprit einzuschränken.
Solche Maßnahmen wurden nach der Krise 2007/2008 nicht ergriffen. Wie wahrscheinlich ist es, dass dies jetzt geschieht? Länder mit hohen Einkommen und internationale Institutionen werden eher ihr Mantra wiederholen: »Haltet die Märkte offen« und weitermachen wie bisher. Es liegt deshalb an den Ländern des Südens, insbesondere denen mit Nahrungsmittelmangel, diese harte Realität anzuerkennen und ihre Abhängigkeit von Nahrungsmittelimporten zu verringern, indem sie ihre Bauern unterstützen und ihre Agrar- und Lebensmittelmärkte proaktiv regulieren.
30.5.2022

* Frédéric Mousseau koordiniert am Oakland Institute die Forschungen zu Landinvestitionen, Ernährungssicherheit und Landwirtschaft.

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