Ein tödlicher Sommer
von Gerhard Klas
Es könnte ein fiktives Lehrbeispiel an einer Polizeischule über einen völlig schief gelaufenen Einsatz sein: Ein psychisch labiler, suizidgefährdeter 16jähriger Jugendlicher aus dem Senegal, der seit wenigen Monaten in Deutschland ist, der deutschen Sprache nicht mächtig, und dessen Bruder auf der Flucht im Mittelmeer ertrank.
Der alarmierte Anruf eines Betreuers bei der zuständigen Polizeidienststelle, weil der Geflüchtete mit einem Messer im Hof einer kirchlichen Jugendeinrichtung sitzt und droht sich selbst zu töten. Elf Polizeibeamte, die dorthin rasen. Sie haben weder einen Übersetzer noch einen Psychologen dabei, dafür aber Pfefferspray, Elektroteaser und eine Maschinenpistole. Sämtliche Bodycams – die am Körper installierten Kameras gehören mittlerweile zur Standardausrüstung – sind ausgeschaltet. Deeskalation? Fehlanzeige. Alle drei Waffen kommen nacheinander zum Einsatz und treffen den Jungen: beißender Pfeffer, Stromschläge und fünf MP-Kugeln. Nicht die Beine, sondern der Oberkörper wird getroffen. Der Jugendliche stirbt später im Krankenhaus. Die Beamten geben anschließend an, sich bedroht gefühlt zu haben, weil der Geflüchtete sich mit seinem Messer ihnen genähert und sie bedroht habe.
Das ist keine Fiktion, sondern bittere Realität am 8.August 2022 in Dortmund, NRW. Und Herbert Reul, zuständiger Innenminister, vermag beim besten Willen kein Fehlverhalten seiner Beamten zu erkennen. Eine Ignoranz, die sich dadurch erklären lässt, dass er selbst den Boden für Polizeieskapaden jeglicher Art bereitet hat: Schon Ende des vergangenen Jahres gab es mehrere Todesfälle im NRW-Polizeigewahrsam. Flüchtlingsorganisationen, Klimaschützer und Antifaschisten klagen immer wieder über unverhältnismäßige Polizeigewalt, die auch vor Minderjährigen nicht halt macht.
Unmittelbar nach seinem Amtsantritt 2017 hatte Reul die unter der rot-grünen Vorgängerregierung eingeführte, individuelle Kennzeichnungspflicht für Polizeibeamte wieder abgeschafft, 2018 das Mitführen von Maschinenpistolen in Einsatzfahrzeugen angeordnet, 2019 ein neues Polizei- und im vergangenen Jahr ein neues Versammlungsgesetz durchgesetzt. Beide Gesetze erweitern die Befugnisse nun auch wieder anonym agierender Polizeibeamter erheblich. Diesem Machtzuwachs steht ein Nachholbedarf in der polizeilichen Ausbildung in Rassismus und Umgang mit psychisch Erkrankten gegenüber. Kein Wunder, dass in den vergangenen Jahren in zahlreichen NRW-Dienststellen gewaltverherrlichende und rassistische Chatgruppen aufgeflogen sind: Die Polizei NRW ist ein idealer Nährboden.
Die tödlichen Kugeln in Dortmund sind nur die Spitze des Eisberges. Drei weitere Todesfälle im Rahmen von Polizeieinsätzen gab es allein in der ersten Augustwoche, zwei davon ebenfalls in NRW. Die ohnehin häufig nachlässigen Ermittlungen gegen eigene Kollegen werden in zwei Fällen mit zusätzlichen Beißhemmungen verbunden sein: die Polizei Dortmund untersucht den Fall der Kollegen in Recklinghausen und umgekehrt. Mehrere Dutzend Experten fordern eine unabhängige Untersuchung. Vom Koalitionspartner der CDU in der Landesregierung haben sie dabei nicht viel zu erwarten. Die Grünen halten sich nicht nur mit Kritik am Innenminister zurück, schon der Koalitionsvertrag trägt die Handschrift des CDU-Hardliners Reul: seitenlange Ausführungen über das Schutzbedürfnis der NRW-Polizei und die Notwendigkeit ihrer Aufrüstung. Demonstrierende in zahlreichen NRW-Städten fragen sich nun völlig zurecht: »Wer kontrolliert eigentlich die Polizei und schützt uns vor ihr?«
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