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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 09/2022

Klimagerechtigkeit Kassel erklärt, warum Erdgas sabotiert werden muss
dokumentiert

Zwischen Pipelinerohren bei Wilhelmshaven flirrt die Luft in der Sommerhitze. Zusammen mit 2000 Klimagerechtigkeitsaktivist:innen aus dutzenden Ländern stellen wir uns Maschinen von RWE dort in den Weg, wo sie unter Polizeischutz Stahl in den Boden treiben. Mitten im Wattenmeer soll nach dem Willen vom grünen Bundeswirtschaftsminister eines von zwölf Terminals für Flüssiggas (LNG) entstehen.

Beim Aktionswochenende von Ende Gelände blockieren wir auch den Hamburger Hafen, über den nach einem Anruf von Olaf Scholz beim ehemaligen kolumbianischen Präsidenten noch mehr Blutkohle importiert werden soll.
Doch für uns Aktive von Klimagerechtigkeit Kassel ist auch vor der Haustür genügend zu tun. Mit einem Bürger:innenbegehren haben wir Kohle ab 2025 aus der Fernwärme Kassels verbannt. Kassel ist allerdings auch unrühmliche Gashauptstadt Deutschlands. In Kassel steht neben drei Gazprom-Unternehmen unter staatlicher Treuhandschaft vor allem die Firmenzentrale von Wintershall Dea. Dieser weltweite Player im dreckigen Gasgeschäft steht als Mitverursacher der Klimakatastrophe schon vor Gericht – angeklagt von der Deutschen Umwelthilfe. Immer da, wo sie gerade am verwundbarsten ist, drängen wir den Einfluss der mächtigen Gaslobby zurück – ob mit einem pressewirksamen Bannerdrop, Veranstaltungen voller intensiver Diskussionen oder Gesprächen mit der Kommunalpolitik.

Die Regierung…
Erdgas besteht hauptsächlich aus Methan, das noch vor CO2 die meisten Klimaschäden verursacht. Jede Tonne austretendes Methan wirkt innerhalb der entscheidenden nächsten zwanzig Jahre so klimaschädlich wie 83 Tonnen CO2. Diese Emissionen wurden lange enorm unterschätzt: Russische Pipelines lecken, US-Frackingfelder gasen aus, LNG-Tanker und Verdichterstationen verpesten durch Entlüftung die Atmosphäre mit Methan. Dennoch versuchen Großkonzerne immer wieder, Erdgas und daraus produzierten Wasserstoff als saubere Übergangslösung zu präsentieren. Dabei ist sauberes Gas eine dreckige Lüge: Erdgas ist kaum weniger klimaschädlich als Kohle.
Dennoch schließt die Bundesregierung Verträge mit den USA für besonders klimaschädliches Frackinggas und drängt Qatar und den Senegal zur Ausweitung der Gasförderung. Mit Laufzeiten bis 2043 führen uns diese Verträge mitten in die Klimakatastrophe. Das LNG-Beschleunigungsgesetz sorgt dafür, dass die heimischen Küsten ohne Prüfung der Umwelt- und Menschenrechtsfolgen mit LNG-Importterminals zugepflastert werden können.

…und wir
Viele der konventionellen Erdgaslagerstätten sind restlos ausgebeutet. Was an neuen Gasbohrungen übrig bleibt, sind hochgefährliche Fördervarianten wie Tiefseebohrungen in der Arktis. Auch das in Deutschland weitgehend verbotene Fracking wird nicht nur durch Wintershall weltweit vielerorts angewandt. Dabei werden nachweislich Erdbeben ausgelöst und überlebenswichtige Grundwasserreserven verseucht. Um in Vaca Muerta (Argentinien) noch mehr Methan aus dem Boden zu pressen, tritt Wintershall zahlreiche Rechte der lokalen Bevölkerung und indigener Gemeinschaften wie der Mapuche mit den Füßen. Kassel und Deutschland sind an dieser neokolonialen Ausbeutung von Mensch und Natur reich geworden.
Eine Übergewinnsteuer wäre überfällig, wäre aber auch nur der erste Schritt. Die hessische Landesverfassung sieht die Vergesellschaftung fossiler Großkonzerne vor. Die mit einer Steuer abgeschöpften Profite sollten genutzt werden, um ein bedingungsloses Klimagrundeinkommen auszuschütten und damit einen Mentalitätswandel herbeizuführen. Gestaffelte Preismodelle könnten Strom- und Gassperren vermeiden. Energienutzung muss endlich als zentrales Grundrecht anerkannt werden.
Gleichzeitig gilt es, die unzähligen Puzzlestücke des Gasausstiegs voranzutreiben. Umschulungen der Beschäftigten in der Gasindustrie hin zu grüner Nah- und Fernwärme durch Solarthermie, industrielle Abwärme sowie Großwärmepumpen wollen koordiniert werden. Die Debatte über Ausstiegspfade für alle fossilen Energien ist längst überfällig. Energieintensive Industrien von Düngemittel über Plastik bis hin zur Zement- und Autoindustrie müssen genauso wie die Nutzung ihrer Produkte begrenzt werden, damit der industrielle Gasverbrauch bis 2035 auf Null heruntergefahren werden kann. Neue Öl- und Gasheizungen gehören schon lange verboten, genauso wie neue Gaskraftwerke. Bis 2030 sollten auch alle bisherigen Gaskraftwerke und bis 2035 alle privaten Gasheizungen straßenweise durch erneuerbare Energien ersetzt werden.
Durch die historisch aufgelaufene Kolonialismus- und Klimaschuld ist gleichzeitig die Schaffung sicherer Fluchtrouten und die Aufnahme aller Kriegs- und Klimaflüchtlinge eine moralische Pflicht.
Lasst uns mit breiten Bündnissen dafür kämpfen, dass die sozialökologische Transformation nun endlich durchstartet. Es ist eine Frage des Überlebens, dass die Klimawende nicht weiter vor sich hin tröpfelt wie in den letzten drei Jahrzehnten.
Sonst werden Wut und Verzweiflung immer mehr ausgebeutete Menschen zu drastischeren Taten treiben. Denn Überschwemmungen, Dürren und Stürme nehmen Milliarden Menschen ihre Lebensgrundlage. So ist es nur verständlich, wenn die Klimakillerinfrastruktur dann auch dauerhafter als nur mit punktuellen Blockadeaktionen lahmgelegt wird. In Wilhelmshaven und Hamburg gab es einen ersten Vorgeschmack auf solche friedliche Sabotage, wie sie nicht nur in Nigeria schon lange gang und gäbe ist: Etliche Baumaschinen und Rohre für eine Pipeline wurden im Rahmen des Ende-Gelände-Aktionskonsens unbrauchbar gemacht.

KligK – Klimagerechtigkeit Kassel ist eine lokale Gruppe, die sich in Kassel und darüber hinaus u.a. mit direkten Aktionen für Klimagerechtigkeit einsetzt.

Mehr Infos unter: https://klimagerechtigkeit-kassel.org/.

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