…aber sind nicht gewillt, etwas dagegen zu tun
von Gaston Kirsche
In vielen Branchen wird über den Fachkräftemangel geklagt. Die Kapitalfraktionen sehen die Antworten in erhöhter Wochenarbeitszeit, Zuwanderung und Steuerung durch den Staat. Nur eins soll nicht passieren: die Lohnarbeit attraktiver zu gestalten.
»Der Fachkräftemangel in den Betrieben ist zurück: schneller und in größerem Umfang als von vielen erwartet«, sagt der stellvertretende Hauptgeschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), Achim Dercks, im November bei der Vorstellung der zuletzt erschienenen Ausgabe 2021 des Fachkräftereports: »Wir haben bei den Arbeitskräften den Zenit erreicht. In den kommenden Jahren wird es für die Unternehmen ein immer mühsameres Geschäft, sich gegen die Fachkräfteengpässe zu stemmen.«
Für den Report wurden Antworten von rund 23000 Unternehmen ausgewertet, von denen 51 Prozent erklärten, sie könnten offene Stellen wegen fehlender passender Bewerbungen zumindest teilweise nicht besetzen.
Vom Hotel- und Gaststättenverband bis zur Wohnungswirtschaft wird vor der Lücke zwischen Schulabgängen und Renteneintritten gewarnt. Die ambitionierten Ziele der Bundesregierung seien so nicht zu erreichen. Neubau von jährlich 400000 Wohnungen und energetische Sanierung alter Gebäude zur Erreichung der Klimaziele? Ohne Bauarbeiter:innen wird das nichts.
Eine Sprecherin des Zentralverbands des Deutschen Handwerks (ZDH) malte im Juli bei der internationalen Handwerksmesse in München das Schreckensszenario von einer Viertelmillion unbesetzter Stellen an die Wand: Zwar seien bei den Arbeitsagenturen laut ZDH derzeit nur 150000 offene Stellen gemeldet. Aber viele Betriebe würden unbesetzte Stellen nicht an die Agenturen melden. In den technischen Berufen seien Stand April 320000 gemeldete Stellen nicht besetzt gewesen, vor allem im Bereich Energie/Elektro und IT, Schlüsselbranchen für den Strukturwandel hin zu mehr Digitalisierung und Dekarbonisierung.
»Wenn wir bei der Nachwuchs- und Fachkräfteversorgung nicht schnellstmöglich gegensteuern, droht nicht nur ein Scheitern der Energiewende, sondern auch ein massiver Wirtschaftseinbruch, ein Verlust an Wertschöpfung und Wohlstand«, erklärte Franz Xaver Peteranderl, Präsident des Bayerischen Handwerkstags, laut Bayrischem Rundfunk.
Beim dortigen Spitzengespräch mit Bundeskanzler Olaf Scholz forderten die deutschen Kapitalverbände Abhilfe durch den Staat. Der Staat soll für mehr Fachkräfte, für ein größeres Angebot an Arbeitenden sorgen – ohne dass es die Firmeninhaber etwas kostet: »Von der Politik erwartet die deutsche Wirtschaft Entscheidungen, die unternehmerischen Freiraum und die nötige Flexibilität verschaffen, Investitionen fördern, die internationale Wettbewerbsfähigkeit stärken und keine zusätzlichen Belastungen und Regulierungen mit sich bringen«, so die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), die DIHK und der gastgebende ZDH in ihrer »Gemeinsamen Erklärung zum Münchener Spitzengespräch am 8.Juli 2022« mit Olaf Scholz.
Der brauchte beim Gespräch gar nicht mitzuschreiben, die Erklärung aus den Chefetagen ist sehr klar und offen. Selbstverständlich wünschen die Kapitalverbände keine allgemeine Ausbildungsverpflichtung oder gar eine eigentlich nötige, stärkere Kontrolle der Ausbildungsqualität in den Betrieben.
Betriebliche Realitäten
Dem gesellschaftlichen Bedarf an besseren Arbeits- und Ausbildungsbedingungen steht die betriebliche Realität gegenüber. In keiner Branche der Privatwirtschaft wird die Quote für die Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen erfüllt – in der Regel werden lieber die niedrigen Strafgebühren bezahlt, als mindestens 5 Prozent der Stellen mit schwerbehinderten oder ihnen gleichgestellten Beschäftigten zu besetzen, wie im Sozialgesetzbuch IX für Unternehmen mit mehr als 20 Arbeitsplätzen vorgeschrieben. Die Vereinbarkeit von Lohnarbeit mit sozialen Verpflichtungen und Carearbeit wird durch deregulierte, flexible, allein an betrieblichen Abläufen orientierte Arbeitszeiten oft eher erschwert als erleichtert. Die Ausbildungsreporte des DGB dokumentieren zahlreiche Missstände, gerade in kleineren Betrieben sind die Bedingungen für eine umfassende und hochqualifizierte Ausbildung nicht ideal.
Dabei ist Fachkräftegewinnung kein Hexenwerk. »Mehr Aus- und Weiterbildung, gute Arbeitsbedingungen, tarifliche Löhne, bessere Vereinbarkeit von Leben, Familie und Arbeit sind die Grundlagen«, sagt Anja Piel, DGB-Vorstandsmitglied, gegenüber dem Autor: »Mehr junge Menschen brauchen eine passende berufliche Ausbildung. Wer bereits im Berufsleben steht, benötigt für Digitalisierung und Energiewende gute Angebote für die sich verändernde Arbeitswelt.« Der DGB fordert deshalb seit Jahren ein Recht auf Weiterbildung. »Unternehmen müssen sich bewegen. Wo Fachkräfte fehlen, gibt es vielfach auch hausgemachte Probleme«, meint Piel. »Beispiel Pflege: Obwohl der Bedarf an Arbeitskräften hoch ist, verlassen zu viele den Beruf wegen hoher Belastungen nach wenigen Jahren wieder. Ausreichend Personal, verlässliche Arbeitszeiten und bessere Bezahlung könnten hunderttausende Pflegekräfte zurück in ihren Beruf locken oder Teilzeitkräfte dazu anregen, ihre Arbeitszeit aufzustocken.«
Auch in der Bildung wird lieber aufgrund des Personalmangels an freiwillige Mehrarbeit appelliert, um den Unterricht sicher zu stellen, als die unsägliche Praxis zu beenden, die Verträge der Lehrkräfte zu befristen, um sie in den Sommerferien nicht bezahlen zu müssen. Allein in Baden-Württemberg mussten sich 4000 Lehrkräfte über den Sommer arbeitslos melden.
Zuwanderung als Profitgarantie
Die Kapitalverbände wollen an ihrer Praxis jedoch nichts ändern und fordern daher: »Zusätzlich werden wir aber weiterhin Zuwanderung brauchen.« Hier sei der Staat gefordert: »Wichtige Hebel sind hier beschleunigte und digitalisierte Verwaltungsverfahren sowie eine gezielte Weiterentwicklung des Rechtsrahmens, um die Hürden für eine gesteuerte Zuwanderung abzubauen. Aktuell scheitert eine Rekrutierung im Ausland zu häufig an langen Wartezeiten oder zu komplizierten Anforderungen.« Im grün-schwarzen Koalitionsvertrag in Schleswig-Holstein wird die gezielte Anwerbung von Fachkräften aus dem Ausland verankert, als sei es ein Managementproblem. In einem Punkt findet sich eine Verbesserung der rechtlichen Situation für Beschäftigte: Die Anerkennung im Ausland erworbener Abschlüsse soll beschleunigt werden.
Dem Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, reicht das vom Bundeskabinett am 5.Juli beschlossene neue Aufenthalts- und Arbeitsrecht für geduldete Flüchtlinge nicht aus: »Deutschland braucht dringend grundlegende Reformen des Fachkräftezuwanderungsgesetzes.« Hier geht es nie um Zuwanderung als Menschenrecht auf freie Niederlassung, sondern als »Rekrutierung« im Interesse der Betriebe. Sonst könnte Fratzscher auch eine generelle Aufhebung des Arbeitsverbotes und der Aufenthaltsbeschränkungen für alle Geflüchteten fordern, so wie der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband dies im Sinne der »sozialen und ökonomischen Teilhabe« tut. »Zugewanderte dürfen keine Arbeitnehmer zweiter Klasse sein«, stellt Anja Piel vom DGB klar: »Die Koalition muss die Anerkennung von ausländischen Berufsabschlüssen endlich erleichtern und für faire Vermittlungsbedingungen sorgen. Zugewanderte müssen außerdem gemäß ihren Qualifikationen beschäftigt werden, sonst verschenken wir wertvolle Potenziale.«
42-Stunden-Woche?
Der Staat steht sich beim Fachkräftemangel nicht nur durch die Austeritätspolitik der letzten Jahre und die Abschottung des nationalen Arbeitsmarkts selbst im Weg. Eine betriebswirtschaftliche Logik, die der Gewinnmaximierung folgt, kann beim Fachkräftemangel keine Abhilfe schaffen – dafür wäre eine volkswirtschaftliche Orientierung erforderlich: Welche Arbeit ist gesellschaftlich wichtig, und worauf kann gut verzichtet werden? Was dient nur der möglicherweise auch noch umweltschädlichen Überproduktion?
Das Gegenteil propagierte Siegfried Russwurm, Präsident des BDI: »Ich habe persönlich große Sympathie für eine optionale Erhöhung der Wochenarbeitszeit – natürlich bei vollem Lohnausgleich«, sagte Russwurm der Funke-Mediengruppe im Juni: »Eine 42-Stunden-Woche wäre sicherlich leichter umzusetzen als eine allgemeine Einführung der Rente mit 70.« Nicht zuletzt die Erwerbsquote von Frauen, von denen viele in Teilzeit arbeiten, ließe sich sicher eher durch kürzere Regelarbeitszeiten erhöhen, statt durch eine längere Wochenarbeitszeit.
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