Mit zivilem Ungehorsam für günstigen Nahverkehr
von Gerhard Klas
»Wir starten den 9-Euro-Fonds, damit das 9-Euro Ticket bleibt«, kündigte Ende August eine Initiative von Klima- und Verkehrswende-Aktivist:innen aus Berlin an. Sie will damit an die populäre Aktion der Bundesregierung anknüpfen, an der sich 53 Millionen Menschen beteiligten und die Ende August ausgelaufen ist.
Die Idee
Wer 9 Euro bezahlt und sich beim Fonds registrieren lässt, kann ohne Fahrschein in U-Bahnen, Bussen, S-Bahnen und Straßenbahnen fahren. Bundesweit. Die Initiative funktioniert wie eine Solidarversicherung: Aus den eingezahlten Geldern – plus eingegangenen Spenden – wird, sollte ein Mitglied des Fonds kontrolliert werden, das »erhöhte Beförderungsentgelt« von 60 Euro erstattet. Anders als beim staatlichen 9-Euro-Ticket sind allerdings die Regionalzüge der DB und anderer Anbieter ausgeschlossen. Denn in den Regionalzügen wird deutlich häufiger kontrolliert als im Nahverkehr. Die Kampagne soll laufen, bis es eine offizielle Nachfolge für das 9-Euro-Ticket gibt, die erschwinglich ist.
Orientiert hat sich der Fonds an vergleichbaren Projekten in Europa: In Schweden gibt es schon seit 2001 eine Freifahrtversicherung, So praktiziert die Kampagne Planka.nu in Schweden die Idee der Freifahrtversicherung schon seit 2001. In Spanien ist die Kampagne 2012 aus Protest gegen die Verkehrs- und Sparpolitik der konservativen Regierung entstanden: »Yo no pago« – Ich zahle nicht.
Die Bewegung entstand in Madrid. Dort ist das Fahren ohne Fahrschein zumindest in der U-Bahn deutlich schwieriger als in deutschen Städten. Die Fahrkarte muss entwertet werden, damit man durchs Drehkreuz kommt. In einigen Stationen gibt es Metromitarbeiter und Sicherheitsleute, die Kontrollen durchführen und aufpassen, dass niemand einfach darüberspringt. Dreißig Euro kostet das Fahren ohne Ticket, wird man erwischt. Mittlerweile gibt es diese Initiative auch in anderen spanischen Großstädten und die Kampagne hat eine eigene App entwickelt, mit deren Hilfe die versicherten Aktivist:innen vor Kontrollen gewarnt werden.
Auch der 9-Euro-Fonds hat nicht nur die Verkehrswende, sondern auch die soziale Dimension im Blick. Er sieht sich, so Pressesprecher Leo Maurer, als Teil einer europaweiten Solidaritätsbewegung mit denen, die von den explodierenden Preisen für den täglichen Bedarf betroffen sind – nach dem Vorbild der britischen Kampagne »Enough is Enough«. Am liebsten wäre den Initiator:innen ein kostenloser Nahverkehr – und sie fordern eine erhebliche Aufstockung des Personals und den Ausbau der Infrastruktur.
Wer ist dabei?
Nicht nur in den sozialen Medien war der 9-Euro-Fonds von Anfang an ein Erfolg. Schon Ende August hatte er 160000 Follower auf Twitter. Aktuell beteiligen sich – als Nutzer:innen und Spender:innen – 6000 Personen, bereits Anfang September war auf dem Konto schon ein fünfstelliger Betrag. Bis Redaktionsschluss hat der Fonds einhundert erhöhte Beförderungsentgelte von jeweils 60 Euro erstattet.
In Deutschland wird der 9-Euro-Fonds von zahlreichen sozialen und ökologischen Initiativen unterstützt: Sand im Getriebe, Wald statt Asphalt, den Aktionskünstler:innen des »peng«-Kollektivs, der Umverteilungskampagne »Wer hat, der gibt«, vom Verein Sanktionsfrei, der Hartz-IV-Empfänger:innen unterstützt, und vom Freiheitsfonds, der Menschen mit Ersatzfreiheitsstrafen, etwa wegen Fahren ohne Fahrschein, aus den Gefängnissen freikauft. Auch die Aktivist:innen der »Letzten Generation« kündigten an, ab September aus Protest gegen die Abschaffung des 9-Euro-Tickets künftig ohne Fahrkarte den Nahverkehr nutzen zu wollen.
Legal ist das Fahren ohne Ticket nicht, in Deutschland gilt das »Erschleichen öffentlicher Leistungen« nach §265a StGB als Straftat, die auch zur Anzeige gebracht werden kann. Wer wiederholt erwischt wird und die Strafe nicht bezahlt, dem kann sogar eine Haftstrafe drohen – mit dramatischen Auswirkungen.
Das Juristenportal LTO zitiert den Gründer des Freiheitsfonds, Arne Semsrott: »Wir hatten einen Fall von einem Mann in Bayern, der zu insgesamt neun Monaten Haft verurteilt wurde, weil er zehn- oder elfmal ohne Ticket gefahren ist. Da ist ein Schaden in Höhe von 140 Euro entstanden, der letztlich dazu geführt hat, dass der Mann zu 270 Tagen Haft verurteilt wurde. Aus dem Urteil, das wir dann gesehen haben, ging hervor, dass er so oft ohne Ticket gefahren ist, weil er zur Dialyse musste. Der war ganz einfach krank.«
Der Button
Der Fonds empfiehlt seinen Nutzerinnen, sichtbar einen Anstecker mit der Aufschrift »Ich fahre ohne Fahrschein« zu tragen, der auf der Homepage als Vorlage angeboten wird und das Fahren ohne Ticket als Aktion des zivilen Ungehorsams kennzeichnet. Dies kann – das hat in einigen Gerichtsverfahren schon funktioniert – den Vorwurf der Leistungserschleichung entkräften. Auch solidarische Fahrgäste sollten ihn tragen, die einen gültigen Fahrschein haben – um die Arbeit der Kontrolleure zu erschweren.
Nicht an der Aktion des 9-Euro-Fonds sollten sich diejenigen beteiligen, die auf »Bewährung« sind – sei es wegen eines strafrechtlichen Urteils oder wegen einer begrenzten Aufenthaltserlaubnis. Davon rät die Initiative ab. Bisher, so Pressesprecher Leo Maurer gegenüber der SoZ, sei jedenfalls noch keine strafrechtliche Verfolgung im Zusammenhang mit der Aktion des Fonds aufgetreten.
Eigentlich soll der Fonds nur so lange Bestand haben, bis sich die Politik auf eine Nachfolge für das 9-Euro-Ticket geeinigt hat. Sollte das neue Ticket allerdings 29 Euro oder mehr kosten, wollen die Initiator:innen des Fonds weitermachen.
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