Eine Herausforderung ohne Ende
von Leo Gabriel
Es ist nicht so lange her, dass eine von der politischen Linken dominierte politische Konjunktur in Lateinamerika zu Ende ging. Noch klingen die Namen Hugo Chávez, Evo Morales, Rafael Correa, Daniel Ortega, Lula, Kirchner usw. nach und werden im allgemeinen mit der Zeit des ökonomischen Aufschwungs der 2000er Jahre assoziiert. Doch ein Jahrzehnt danach kam der große Einbruch: Die meisten der Genannten fielen einer Kampagne zum Opfer, welche die linken Caudillos – ob zu Recht oder zu Unrecht – der Korruption und Vetternwirtschaft bezichtigte und dem Zorn der Bevölkerung preisgab.
Manche Aktiven nennen diesen Propagandakrieg heute lawfare im Gegensatz zum warfare, der in den 1980er und 1990er Jahren ganz Lateinamerika beherrscht hatte. Auch viele progressiven Autorinnen und Autoren haben auf den Umstand verwiesen, dass die linken Präsidenten in ihrer Amtszeit nicht in der Lage waren, den Wirtschaftsboom zu nutzen, um grundsätzliche Veränderungen in der politischen und ökonomischen Struktur herbeizuführen (Stichwort: Extraktivismus) und sich dadurch immer mehr von ihrer Basis entfernten.
Der Spieß dreht sich um
Doch da im allgemeinen die politischen Uhren in Lateinamerika etwas schneller ticken als in Europa, währte auch diese Konjunktur des desencanto, der allgemeinen Enttäuschung mit den Linksparteien nicht sehr lange, sodass in den letzten Jahren in einigen Schlüsselländern wieder eine Art politische Linkswende stattgefunden hat. Den Auftakt bildete Mexiko, wo 2019 nach Jahrzehnten einer dunklen, von politischen Repressionen gezeichneten Geschichte mit überwältigender Mehrheit Andrés Manuel López Obrador (im Volksmund kurz AMLO genannt) zum Präsidenten gewählt wurde, ein Mann, der nicht nur den Neoliberalismus offen kritisierte, sondern sich auch an die Spitze einer umfassenden Antikorruptionsbewegung stellte.
Es folgte die Volksbewegung in Bolivien, wo es der von Evo Morales gegründeten Bewegung Movimiento al Socialismo (MAS) trotz aller Voraussagen und eines von der Rechten mit Unterstützung des Militärs eingefädelten Putschs gelungen ist, wieder an die Regierung zu kommen. Der vielleicht überraschendste Umbruch fand im mittelamerikanischen Honduras statt, wo es der Frau des 2019 weggeputschten Präsidenten, Xiomara Castro de Zelaya, nach Jahrzehnten einer brutalen Narcodiktatur gelungen ist, eine Wende herbeizuführen. Auch dass die linksperonistische Cristina Kirchner in Argentinien als Vizepräsidentin wiedergewählt wurde, zeigte an, dass das lateinamerikanische Politbarometer auf »veränderlich« stand.
Am wichtigsten aber, sagen lateinamerikanischen Kommentatoren, sind die Wahlsiege des Studentenführers Gabriel Boric in Chile und des ehemaligen Guerillaführers Gustavo Petro in Kolumbien, beides Länder, die in der vorangegangen linken Phase keine besondere Rolle gespielt haben, weil sie mit den militaristischen Spätfolgen eines langandauernden Bürgerkriegs zu kämpfen hatten, der bis weit in die 1970er Jahre zurückreichte. Bleibt nur zu hoffen, dass sich in Brasilien Luiz Inácio da Silva, »Lula«, bei den Wahlen am 2.Oktober durchsetzen wird, das würde den Reigen der Linkswende abschließen.
Aus der Geschichte gelernt?
Es wäre jedoch verfehlt zu glauben, dass sich all diese Entwicklungen wie ein Lauffeuer auf dem ganzen Kontinent verbreitet hätten. Denn mehr als Wahlen und Regierungsübernahmen spielen die sozialen, alternativökonomischen, Menschenrechts- und Umweltbewegungen bei dieser Transformation der politischen Landschaft eine tragende Rolle. So sehr sich die Bilder der triumphierenden Präsident:innen gleichen, sind sie das Resultat von durchaus unterschiedlichen Prozessen, die in einem Fall mehr, in anderen Fällen weniger aus der Geschichte gelernt zu haben scheinen.
Zu letzteren zählt das Dreigespann Kuba–Venezuela–Nicaragua, das sich nach wie vor an dem Narrativ der 1960er und 1970er Jahre orientiert, demzufolge der Staat (oder die »Revolution«, was in deren Augen gleichbedeutend ist) letztendlich die Alleinherrschaft übernehmen soll. Der politischen Führung dieser drei Länder, die sich trotz ihrer inneren Widersprüche dem geopolitischen Block aus Russland, China und dem Iran zugehörig fühlen, sind die obengenannten Bewegungen, soweit sie nicht vom Staat kontrolliert werden können, ein Dorn im Auge. Sie zählt Menschenrechtsbeobachter, Regierungskritiker und autonome zivilgesellschaftliche Einrichtungen zu vom US-Imperium ferngesteuerten Gegnern, die ihrem eigenen Machtanspruch gefährlich werden könnten.
Ganz im Gegensatz dazu hat sich seit Oktober 2019 das sog. »chilenische Modell« entwickelt, das aus einer breiten, kämpferischen Demokratiebewegung vielfältiger Art entstanden ist. Seine Intention war von Anfang an nicht, einen linken Caudillo zu schaffen, sondern einen Verfassungsprozess anzustoßen, wie es zehn Jahre zuvor auch Venezuela (unter Hugo Chávez), Bolivien und Ecuador getan hatten.
Dabei wird oft vergessen, dass der Kampf um eine verfassunggebende Versammlung, der derzeit in unterschiedlicher Intensität in fast allen Ländern Lateinamerikas stattfindet und der neben einem Grundrechtekatalog auch die Rahmenbedingungen für die Regierungspolitik und die (für Lateinamerika ungemein wichtige) Unabhängigkeit der Gerichte festlegen soll, in erster Linie eine Propagandaschlacht ist. Und diese kann, wie das chilenische Beispiel zeigt, nicht immer auf Anhieb gewonnen werden.
Aber auch die Reduktion der Schürfrechte für transnationale Konzerne und die Plurinationalität des Staates stehen angesichts der Kämpfe der indigenen Bevölkerung und der immensen Migrationsströme aus Süd- und Mittelamerika im Mittelpunkt dieses neuartigen Politikverständnisses. In vielen Fällen handelt es sich dabei um eine »Neugründung des Staates«, die nach einer über 500jährigen Kolonialgeschichte heute dringender ist denn je.
Die Linke am Abgrund der Rechten
Auf der anderen Seite sieht sich die Bevölkerung heute wieder ganz großen Herausforderungen gegenüber, die im Unterschied zu den 2000er Jahren die meisten Regionen bedrohen. Dazu zählt der Verfall des Gesundheitssystems infolge seiner »Neoliberalisierung« (Privatisierung) und das Fehlen eines funktionierenden Sozialversicherungssystems, was sich insbesondere bei der Pandemie und bei der Teuerungswelle bemerkbar macht, die Lateinamerika unvergleichlich härter getroffen haben als Europa.
Damit untrennbar verbunden ist eine exponentielle Steigerung der Kriminalitätsrate, der Frauenmorde und das Überhandnehmen von Jugendbanden, die angesichts der wachsenden Arbeits- und Perspektivlosigkeit von Jugendlichen mit den Drogenbaronen zusammenarbeiten. Ob dagegen eine Aufstockung der Sicherheitsapparate hilft, wie in El Salvador geschehen, wo innerhalb von wenigen Monaten 53000 Jugendliche in unmenschliche Gefängnisse gesteckt wurden, bleibt dahingestellt.
Überhaupt ist angesichts der multidimensionalen Krise der Einfluss des Militärs auf die Politik so sehr gestiegen, dass selbst progressive Präsidenten wie AMLO in Mexiko in ein immer größeres Abhängigkeitsverhältnis dazu gedrängt werden. Letztendlich wird damit der Graben zwischen den sog. »poderes facticos«, den dunklen Mächten, die ihre schmutzigen Geschäfte fast überall treiben, und den demokratisch legitimierten Institutionen immer tiefer.
Daran ändert auch der Umstand wenig, dass in den letzten Jahren die Volksrepublik China in Lateinamerika voll als Großinvestor von Megaprojekten eingestiegen ist. Denn wie der interozeanische Kanal in Nicaragua und andere gigantische »Entwicklungsprojekte« gezeigt haben, geht es den Chinesen nur darum, andere Partner vom Markt zu verdrängen und sich dann stillschweigend zurückzuziehen.
Abschließend kann gesagt werden, dass die »neue linke Welle« zwar mit Riesenschritten vorangegangen ist, dennoch erst am Beginn eines Prozesses steht, in dessen Verlauf sie noch viele innen- und außenpolitische Kämpfe wird durchstehen müssen, um ihre Machtbasis zu konsolidieren.
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