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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 10/2022

Welche Mittel sind erforderlich, um die Klimawende real einzuläuten?
Gespräch mit Matilde Alvim

Die Klimagerechtigkeitsbewegung diskutiert derzeit über die Wahl der Mittel. Während die letzte Generation Verkehrsadern blockiert, konzentriert sich Ende Gelände auf die fossile Energieversorgung und Wärmeproduktion. Einige Aktivist:innen aus der internationalen Vernetzung von Fridays for Future wollen jetzt mit Besetzungen von Schulen und Universitäten die nächste Eskalationsstufe einleiten.

In Portugal, wo die Debatte besonders weit gediehen ist, mobilisieren Studierende und Schüler:innen ab Oktober für landesweite Aktionen. Auch in Deutschland, so ist es verabredet, sollen Besetzungen stattfinden.
Matilde Alvim von Fridays for Future in Lissabon ist auch aktiv beim Graswurzel-Klimagerechtigkeitskollektiv Climaximo. Sie ist Studentin der Anthropologie an der Fakultät für Sozial- und Human wissenschaften in Lissabon. Mit ihr sprach Moritz Binzer.

Ihr habt einen Aufruf an das internationale FFF-Netzwerk veröffentlicht. Worum geht es?

Der Aufruf trägt den Titel »End ­Fossil: Occupy«. Im Grunde geht es darum, Besetzungen von Schulen und Universitäten zu organisieren, um dadurch einen Beitrag zur Zerschlagung der fossilen Industrien zu leisten. Der Aufruf ist international, und viele weitere Gruppen haben zugesagt, Besetzungen durchzuführen, z.B. in Italien, Deutschland, Spanien, Frankreich, Großbritannien, Österreich, USA, Kanada usw. Hier in Portugal werden wir die Schulen und Universitäten von Lissabon besetzen, bis unsere Forderungen erfüllt oder wir von der Polizei geräumt werden.
Wir fordern ein Ende der fossilen Energieträger bis 2030 in Portugal und den Rücktritt des Wirtschaftsministers António Costa Silva, der geschäftsführendes Vorstandsmitglied eines Ölunternehmens ist. Für die internationale Jugendklimabewegung wäre dies ein Schritt nach vorn, über das Demonstrieren oder Streiken hinaus. Wir wollen Schulen und Universitäten besetzen und ein echter Störfaktor sein.

Wie läuft die Vernetzung bisher und wie ist der Kontakt mit den anderen Gruppen?

Bevor wir unseren Aufruf öffentlich gemacht haben, sind wir bereits mit vielen Menschen von verschiedenen Gruppen in Kontakt getreten. Hauptsächlich mit jungen Aktivist:innen, die im Januar beim ökosozialistischen Treffen in Lissabon mitgemacht haben. Wir wollten an die Mobilisierungen von 2019 anknüpfen, so was braucht die Bewegung. Und wir haben durchblicken lassen, dass wir über Besetzungen nachdenken.
Die Rückmeldungen waren positiv. Uns ist es wichtig, keine großen Vorgaben zu machen. Die Stärke von 2019 war, dass die Mobilisierung sehr organisch verlaufen ist. Für eine Teilnahme müssen nur die drei Prinzipien von »End Fossil: Occupy« erfüllt werden: Die Besetzung muss von jungen Menschen initiiert und geleitet werden; sie soll so lange laufen, bis unsere Forderungen erfüllt werden; und natürlich muss sie auf das Thema Klimagerechtigkeit ausgerichtet sein. Alle können das Logo, das Banner, die Slogans nutzen, um sich an »End Fossil: Occupy« zu beteiligen. Die Besetzer:innengruppen der verschiedenen Länder können die Forderungen formulieren, die zu ihrem Kontext passen. Dadurch wollen wir erreichen, dass die Mobilisierung wirklich aus der Bewegung erwächst und zu einer Massenbewegung wird.

Warum seid ihr überzeugt von dieser Aktionsform?

Die Klimagerechtigkeitsbewegung braucht einen weiteren Mobilisierungshöhepunkt. Nach zwei Jahren Covid ist die Klimafrage stark in den Hintergrund gerückt, diesen Aufschub können wir uns in der Klimakrise nicht leisten. Wir müssen dringend die Massen mobilisieren. Aber das wird nicht möglich sein, wenn wir einfach dieselben Taktiken immer wiederholen. Wir haben mit Jugendgruppen in allen Teilen der Welt gesprochen und von vielen Seiten die Rückmeldung bekommen, dass die Bewegung müde ist, nur auf den nächsten globalen Klimastreiktag zu warten. Es wird nur dann etwas passieren, wenn wir einen Schritt weiter gehen.
Gleichzeitig können andere Gruppen aus der Bewegung ihre Rolle spielen, etwa mit zivilem Ungehorsam oder direkten Aktionen, die auf die fossile Infrastruktur abzielen. Und wir können uns an den Orten organisieren, an denen wir über Stärke verfügen. Diese Orte sind die Schulen und die Universitäten. Dadurch bekommt die Bewegung eine größere Vielfalt und kann gleichzeitig effektiv stören. Wir machen dabei keine geheimen Aktionen mit ein paar Eingeweihten, sondern wir wollen bei den Besetzungen möglichst viele sein.
Vorbild und Inspiration sind für uns viele historische Kämpfe wie der Mai 68 in Frankreich, als die Student:innen aufbegehrten und dann auch die Arbeiter:innen mitmachten. Aber auch Occupy Wallstreet, wo es eine Besetzung gab und dann überall auf der Welt Hunderte diesem Beispiel folgten.
Wenn wir Schulen und Universitäten besetzen, um die fossile Ökonomie anzugreifen, hoffen wir auf die Solidarität der gesamten Klimagerechtigkeitsbewegung und anderer Menschen, dass auch sie Gebäude von Institutionen besetzen und damit unseren Forderungen Nachdruck verleihen. Wir wollen so viele Menschen wie möglich mit einbeziehen, auch für die Veranstaltungsprogramme während der Besetzungen und die ganze Logistik, also Versorgung mit den Dingen des täglichen Bedarfs. Dann würde es unmöglich, unsere Aktionen zu ignorieren.

Wie läuft die Organisierung bis jetzt in Portugal? Was soll während der Besetzungen passieren?

Wir werden den Ort der Besetzung nutzen, um eine Welt ohne fossile Ökonomie vorstellbar zu machen, eine Welt mit einer gerechten Transformation hin zu Klimagerechtigkeit. Dabei sollen auch die spezifischen Themen der Studierenden aufgegriffen werden, z.B. die hohen Studiengebühren in Portugal oder das Problem mit den fehlenden Unterkünften. Auf der internationalen Ebene sind wir über einen Telegram-Chat und eine Mailingliste miteinander vernetzt. Hier in Portugal haben wir wöchentliche Treffen mit allen Beteiligten.
Wir veranstalten Filmabende und bemalen Wände um zu mobilisieren. An einer Schule haben wir konkret erprobt, wie eine Besetzung laufen könnte: Dafür haben wir den Feueralarm in einem Gymnasium ausgelöst. Die Schüler:innen sind dann raus aus ihren Klassen und wir haben die versammelte Schülerschaft aufgefordert, den Eingangsbereich der Mensa zu besetzen. Dabei sind gute Bilder entstanden, die wir für die Mobilisierung an anderen Schulen brauchen können.
Wir organisieren uns derzeit nur in Lissabon, aber wir hatten eine Versammlung auf dem portugiesischen Klimacamp, bei dem eine ganze Reihe von Leuten aus anderen Teilen Portugals zugesagt haben, dass sie ebenfalls etwas in ihrer Stadt organisieren möchten.

Einige FFF-Aktivist:innen in Deutschland befürchten, dass sie mit solchen Aktionen des zivilen Ungehorsams ihr Mobilisierungspotenzial verlieren. Teilst du diese Befürchtung?

Das Potenzial zur Massenmobilisierung sollte weiterhin ein wesentlicher Bestandteil der Rolle von Fridays for Future in der Bewegung sein. Eine Radikalisierung der Taktik muss jedoch nicht bedeuten, dass das Massenelement verloren geht. Vielerorts verliert FFF heute den Anschluss, mobilisiert keine Massen mehr und begnügt sich mit dem, was bequemer ist.
Manchmal sind Radikalisierung und Innovation unerlässlich, um den Bewegungen neues Leben einzuhauchen. Das bedeutet nicht, dass wir unsere Demos und Aktionen, die mit relativ geringem Risiko einhergehen, komplett einstellen sollten. Aber es bedeutet, dass wir wieder genug Macht aufbauen müssen, um für Staaten und Institutionen bedrohlicher zu werden. Wenn wir unsere Taktik radikalisieren – in diesem Fall durch Besetzungen –, sollten wir auf jeden Fall darauf achten, dies nicht als eingeschworene Gruppe zu tun, sondern es möglichst vielen ermöglichen, sich daran zu beteiligen.

Der Link zu End fossil: Occupy!: https://endfossil.com/de/end-­fossil-occupy/

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