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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 10/2022

Das tragische Leben einer frühen Sozialistin
von Gisela Notz

Flora Tristan gehörte zu den weniger bekannten und oft auch verkannten Gestalten des vormarxistischen Sozialismus. Sie vereinte in ihrem Denken verschiedene Einflüsse der utopischen Sozialisten, ging jedoch bei der Darstellung der Wechselbeziehung zwischen dem Kampf der Arbeiter und der Emanzipation der Frauen weiter als die ­Sozialisten ihrer Zeit. Bereits fünf Jahre vor Karl Marx und Friedrich Engels gelangte sie zu der Erkenntnis, dass die Befreiung der ­Arbeiterklasse das Werk der Arbeiter selbst sein wird.

Kindheit und Jugend
Als Tochter eines reichen Peruaners und ­einer Französin, die aus dem weniger begüterten Kleinadel oder Mittelbürgertum stammte, wurde Flora Tristan am 7.April 1803 in Paris geboren. Als der Vater 1807 auf seinem Anwesen in Vaugirard unerwartet nach einem Schlaganfall starb, verarmte der Rest der Familie, weil die Eltern nicht »rechtmäßig« verheiratet waren – manche Quellen vermuten, dass der Vater eine Scheinehe eingegangen war. Clara Zetkin schrieb in ihrer Geschichte der proletarischen Frauenbewe­gung, die Ehe sei von einem Geistlichen in ­einer Form ­geschlossen worden, die für Spanien volle Rechtsgültigkeit hatte, aber nach französischem Gesetz null und nichtig war.
Flora war nun ein »illegitimes Kind«, die Mutter verlor trotz aller Bemühungen ihre Erbschaftsansprüche und zog mit ihren Kindern, nach einigen Jahren kärglichen Lebens auf dem Lande, 1818 in ein Elendsviertel von Paris, wo Flora sich als Arbeiterin und Kontoristin durchschlug. 1819 fand sie eine Arbeit als Koloristin in der Werkstatt eines Malers und Kupferstechers, der von ihrer Schönheit angetan war. 1821 heiratete sie ihn auf Zureden ihrer Mutter und bekam drei Kinder mit ihm. Noch vor der Geburt ihres dritten Kindes konnte sie den ungeliebten, herrschsüchtigen Mann nicht mehr ertragen und flüchtete mit den Kindern zu ihrer Mutter. Eine Scheidung war unmöglich, denn 1816 war sie in Frankreich von der Restauration aufgehoben worden.

Allein gegen den Rest der Welt
Auf der Flucht vor ihrem Mann ging sie 1826 nach London und begleitete eine begüterte Familie bei Reisen durch England, die Schweiz und Italien, wo sie die sozialen Zustände in diesen Ländern studieren konnte. 1833 reiste sie nach Peru, um Pío de Tristán, den Bruder ihres Vaters, zu besuchen. Vom Onkel wurde sie zunächst freundlich aufgenommen, er reagierte jedoch eiskalt, als sie ihn auf ein mögliches Erbe ansprach. Mit ­einer kleinen Jahresrente kehrte sie zurück nach Paris. Dort traf sie mit berühmten Sozialreformer:innen zusammen und nahm an ­feministischen Treffen teil.
Ihre Erlebnisse schrieb sie in etlichen Büchern nieder. Fast alle sind Erfahrungsberichte, wie Meine Reise nach Peru. Fahrten einer Paria (1838), durch das sie in Frankreich berühmt, in Peru jedoch, ob ihrer schonungslosen Schilderungen der politischen und sozialen Verhältnisse, gehasst wurde. Der Vater ihrer Kinder verfolgte sie weiterhin, wollte von ihr Geld und ehelichen Gehorsam einklagen, entführte die neunjährige Tochter Aline, versuchte diese zu vergewaltigen und schoss 1838 auf offener Straße auf Flora, die lebensgefährlich verletzt wurde – ein Femizid. Der spektakuläre Prozess erregte großes Aufsehen. Ein nicht geringer Teil der Bevölkerung billigte die Tat, weil Flora »eine Geächtete« und in ihren Augen eine Frau mit »liederlichem Lebenswandel« war. Der Täter wurde dennoch zu zwanzig Jahren Zwangsarbeit verurteilt.
1839 reiste sie acht Monate lang durch England, um die industriellen Arbeitsbedingungen zu studieren und Kontakte zu Frühsozialist:innen zu knüpfen. In ihrem Buch Promenades dans Londres (1840, dt. Im Dickicht von London) nannte sie die Schattenseiten der industriellen Revolution in England: Verarmung weiter Kreise der Bevölkerung und Menschenhandel, beim Namen – ein halbes Jahrzehnt vor Friedrich Engels’ Untersuchung Die Lage der arbeitenden Klasse in England.

Proletarier, vereinigt euch!
Flora Tristans wichtigste Schrift, ja die wichtigste sozialistische Programmschrift überhaupt vor Erscheinen des Manifests der Kommunistischen Partei von Karl Marx und Friedrich Engels, ist die Streitschrift Arbeiterunion (1843). In diesem frühsozialistischen Manifest rief sie die Arbeiter:innen aller Parteien und Nationen auf, über die Ländergrenzen hinweg eine umfassende, einheitliche Arbeiterorganisation zur Vertretung der Interessen der Arbeiter:innen zu gründen, die die Befreiung aller Menschen aus der Unterdrückung zum Ziel haben sollte. Sie nahm darin die wichtigsten Forderungen des »Kommunistischen Manifests« vorweg – mit dem Unterschied jedoch, dass Flora Tristan, anders als Marx und Engels, dem Verhältnis der Geschlechter und der Rolle der Frauen eine zentrale Bedeutung beimaß. Sie erklärte: »Die Befreiung der Arbeiter wird das Werk der ­Arbeiter sein«, und rief ihnen zu: »Proletarier, vereinigt euch!« Beide Parolen fanden Eingang ins »Kommunistische Manifest«.
Die wichtigsten Forderungen Flora Tristans waren: Recht auf Arbeit für alle Arbeiter:innen; Recht auf moralische, geistige und berufliche Erziehung für aller Arbeiter:innen; absolute Gleichheit von Mann und Frau vor dem Gesetz; Wiedereinführung der Scheidung und Abschaffung der Todesstrafe; gleiche handwerkliche, moralische und politische Erziehung für alle Mädchen und Jungen. Auch die Behandlung von Invaliden und Alten sollte für beide Geschlechter gleich sein. Frauen und Männer forderte sie auf, der Welt ein großes Beispiel zu geben: Die Frauen sollten lernen, sich nicht mehr von der Ungerechtigkeit und Tyrannei der Männer unterdrücken zu lassen, und die Männer sollten für Frauen und Mütter die Freiheit und Gleichheit respektieren, deren sie sich selbst erfreuen.
Offensichtlich hoffte sie auf die Solidarität aller Frauen, denn in einem Aufruf forderte sie die Frauen aller Gesellschaftsschichten, ­aller Altersstufen, aller Parteien und aller Länder auf, die »Arbeiterverbrüderung« zu unterstützen. Da kein Verleger ihr Manifest drucken wollte, zog sie durch Paris, um Geld für die Druckkosten zu sammeln. Wie eine Wanderpredigerin reiste sie durch Frankreich, um ihr Buch und ihre Ideen zu verbreiten.

Die Agitatorin
1843 nahm sie an einer »Tour de France«, wie sie bei den wandernden Handwerksgesellen üblich war, teil. Allabendlich sprach sie vor Arbeiter:innen und forderte sie auf, gemeinsam für ihre Rechte zu kämpfen und sich zusammenzuschließen. Sie besichtigte Fabriken, Gefängnisse und Bordelle und setzte sich für Bettler:innen ein. Ständig wurde sie von der Polizei überwacht. In dem Tagebuch, das postum veröffentlicht wurde – Le Tour de France. Journal inédit (1843–1844) –, schrieb sie über die sozioökonomischen Bedingungen in 22 Städten, über ihre Gespräche mit Seidenarbeiter:innen und Wäscherinnen. Sie zählte sich nun selbst zur Arbeiterklasse und war stolz darauf.
Die Tour endete abrupt mit ihrer Typhus­erkrankung und ihrem Tod im Alter von nur 41 Jahren am 14.November 1844 in Bordeaux. Bei ihrer Beerdigung trugen Arbeiter ihren Sarg. Arbeiter:innen waren es auch, die 1848 mit Tausenden von Menschen ein Denkmal an ihrem Grab errichteten.

Karl Marx und Friedrich Engels zitierten ­Flora Tristan in ihren Schriften nicht. Ob sie sie persönlich kannten, ist unklar. Engels muss von ihr gelesen haben, erwähnt das aber nicht. Als der Junghegelianer Edgar Bauer ­ihren »weiblichen Dogmatismus« kritisierte, nahm er sie in dem ersten gemeinsamen Werk von Marx und Engels, Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik, in Schutz.
Während Flora Tristan in Deutschland heute kaum noch bekannt ist, wurden in Frankreich in den 1970er Jahren Frauengruppen, Frauenhäuser, Straßen, ein Platz in Paris und Bildungseinrichtungen nach ihr benannt. In der peruanischen Hauptstadt Lima gibt es seit 1979 das Centro de la Mujer Peruana ­Flora Tristán, ein Zentrum für Frauenrechte. ­Anlässlich ihres 200.Geburtstags wurde sie 2003 mit Ausstellungen, Kolloquien und Theateraufführungen gewürdigt.

Literatur
Flora Tristan:
Im Dickicht von London oder die Aristokratie und die Proletarier Englands [1840]. (Hrsg. Paul B. Kleiser, ­Michael Pösl.) Köln: Neuer ISP-Verlag, 1993

Flora Tristan: Arbeiterunion. Sozialismus und Feminismus im 19.Jahrhundert [1843]. (Hrsg. Paul B. Kleiser.) Frankfurt a.M.: isp-Verlag, 1988

Paul B. Kleiser: »Flora Tristan. Eine Frau ­allein gegen die Welt«. In: José Gutiérrez ­Alvarez, Paul B. Kleiser: Sozialistinnen. Frankfurt a.M.: isp-Verlag, 1989. S.30–42

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