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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 10/2022

Abertausende Gewerkschafter haben die größte Streikwelle seit Jahrzehnten losgetreten
von Terry Conway*

Von Juni bis August hat Großbritannien eine Streikwelle gegen die Teuerung erlebt, wie seit fast 40 Jahren nicht mehr. Dann ist die Queen gestorben und die Gewerkschaften haben alle Streikpläne für Herbst abgesagt.

Die Preise für Lebensmittel stiegen im August um 5,5 Prozent (im Juli 4,4 Prozent), frische Nahrungsmittel sogar um 10,5 Prozent. Die Zahl der Haushalte, die das Angebot der Tafeln in Anspruch nehmen, ist in den letzten zehn Jahren deutlich gestiegen, auf dem Höhepunkt der Covid-Pandemie waren es mehr als 2,5 Millionen. Und es nutzen nicht nur
Erwerbslose die Tafel; eine Reihe von Krankenhäusern haben in diesem Jahr Lebensmittelbanken für ihr Personal eingerichtet, ebenso ein CallCenter im Bereich der Telekommunikation. Armut am Arbeitsplatz wird zum Normalzustand.
Das ist schon schlimm genug, aber es wird verhängnisvoll, wenn auch noch die Preise für Gas und Strom explodieren.
Großbritannien scheint ein einzigartiges Tarifsystem für Energie zu haben. Seit dem 1.Januar 2019 gibt es eine Preisobergrenze pro verbrauchter Einheit Gas und Strom. Hinzu kommt eine maximale tägliche Grundgebühr für den Anschluss an das Stromnetz. Viele Menschen haben das kaum zur Kenntnis genommen, bis im April dieses Jahres die Obergrenze um satte 54 Prozent stieg. Ab dem 1.Oktober wird sie erneut um 80 Prozent angehoben und von da an alle drei Monate angepasst, statt wie bisher alle sechs Monate.
Die enormen Preissteigerungen bei Benzin und Diesel treffen insbesondere Menschen in solchen Gebieten, in denen es kaum öffentliche Verkehrsmittel gibt, bzw. in der Logistikbranche.
Solche Preissteigerungen treffen Geringverdiener am härtesten. Über eine Million Menschen haben Null-Stunden-Verträge, mehr als zwei Millionen Menschen bekommen den Mindestlohn oder weniger – das reichte schon vor der Inflation nicht zum Leben. Auch viele der 8,2 Millionen Teilzeitbeschäftigten werden es schwer haben, selbst wenn sie einigermaßen vernünftige Stundenlöhne bekommen. Und selbst Arbeiter in traditionell gut bezahlten Berufen geraten unter Druck.

Die Lage der Gewerkschaften
Ein Arbeitskampf ist das wirksamste Mittel für die Gewerkschaften, um die Löhne und Arbeitsbedingungen ihrer Mitglieder zu verteidigen. Aber in Großbritannien haben sich viele Gewerkschaften das schon lange abgewöhnt. Ein Hauptgrund dafür sind die drakonischen gewerkschaftsfeindlichen Gesetze, mit denen sie konfrontiert sind – es sind die restriktivsten in Europa. Sie wurden von den Tory-Regierungen zwischen 1980 und 1993 eingeführt, aber auch die Labour Party hat sie nicht aufgehoben, als sie im Amt war. Sie bedeuten: Gestreikt werden kann erst, wenn mindestens 50 Prozent der Abstimmungsberechtigten an der Abstimmung teilgenommen und mindestens die Hälfte der Abstimmenden für einen Streik gestimmt haben. Bei »wichtigen öffentlichen Diensten« müssen mindestens 40 Prozent der Abstimmungsberechtigten für den Streik gestimmt haben. Bei Zuwiderhandlung drohen den Gewerkschaften erhebliche Sanktionen in Form hoher Geldbußen.
Die Regierung von Margaret Thatcher hat zielstrebig darauf hingearbeitet, kämpferische Kräfte in den Gewerkschaften zu beseitigen, indem sie den Gewerkschaften harte Niederlagen bereitete. Der Bergarbeiterstreik von 1984/85 war die symbolträchtigste, aber es gab auch andere wichtige Kämpfe wie den Druckerstreik 1986 in Wapping. Als Thatcher an die Macht kam, waren 13,2 Millionen Beschäftigte in Großbritannien Mitglied einer Gewerkschaft, 2019 waren es mit 6,9 Millionen noch die Hälfte.
Aber es gibt auch noch andere Probleme. Das Durchschnittsalter der Gewerkschaftsmitglieder ist gestiegen: Fast 40 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder sind über 50 Jahre und der gewerkschaftliche Organisationsgrad unter jungen Menschen ist mit weniger als 1:10 unter den 16- bis 24jährigen hoffnungslos niedrig.
Auch das gewerkschaftliche Engagement ist zurückgegangen. In den 1970er und 1980er Jahren gab es in vielen Gewerkschaften eine starke Schicht von Vertrauensleuten – gewählte Gewerkschaftsvertreter im Betrieb. Nach der Niederschlagung des Bergarbeiterstreiks ist das stark zurückgegangen. Seitdem haben die Gewerkschaften neue Mitglieder eher auf der Basis des Verkaufs von Versicherungen gewonnen als auf der Basis der Organisierung am Arbeitsplatz.
Junge Menschen arbeiten eher in der Gig-Economy, in der die traditionellen Gewerkschaften kaum Mitglieder organisieren; sie erleben sie keine Gewerkschaften, die sich für ihre Mitglieder einsetzen.
Doch es gibt Veränderungen. Eine Reihe von kleinen unabhängigen Gewerkschaften, die nicht dem Dachverband TUC angehören, haben sich in den letzten Jahren über die Organisierung von prekär Beschäftigten aufgebaut, darunter ist eine erhebliche Anzahl von Schwarzen und Migranten, die auch die Aktivist:innen stellen. Auch einige traditionelle Gewerkschaften haben Fortschritte gemacht – insbesondere die große Bildungsgewerkschaft NEU, die eine große Kampagne organisierte, um die Schulen während der Covid-Pandemie sicher zu machen. Dabei hat sie Tausende neuer Mitglieder gewonnen und Gewerkschaftsvertreter:innen in Hunderten von Arbeitsstätten.

Die Streiks
Trotz der großen Probleme haben zahlreiche Gewerkschaftsführer im Frühsommer beschlossen, dass die Verantwortung für eine Gegenwehr bei ihnen liegt. Denn die Regierung konzentrierte sich auf die Premiernachfolge und die Opposition blieb untätig. Seitdem erleben wir den größten Anstieg an Arbeitskämpfen seit vielen Jahrzehnten.

Die Rail, Maritime and Transport Union (RMT)
Die Eisenbahnergewerkschaft RMT war eine der ersten, die im Juni in den meisten Bahnunternehmen und bei Network Rail zu einem dreitägigen Streik aufrief; bei einer Wahlbeteiligung von 71 Prozent hatten fast 90 Prozent dafür gestimmt. Bei dem Streik ging es um eine angemessene Lohnerhöhung – die Arbeitgeber hatten überhaupt keine Lohnerhöhung angeboten – und gegen drohende Massenentlassungen. Die Wut ist nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass die Bahnchefs während der Pandemie eine Million Pfund Gehalt kassierten und die Bahnunternehmen jährlich mehr als 500 Millionen Pfund an privaten Gewinnen erzielten.
Die RMT ist mit rund 80000 Mitgliedern keine große Gewerkschaft, hat aber einen linken Ruf, insbesondere unter der Führung von Bob Crow, der von 2002 bis zu seinem frühen Tod im Jahr 2014 Generalsekretär war. Sie ist eine der drei großen Gewerkschaften, die den Eisenbahnsektor organisieren. (Die anderen Gewerkschaften sind die Aslef, die sich selbst als »Handwerksgewerkschaft für Lokführer« bezeichnet und rund 21000 Mitglieder hat, und die TSSA, die traditionell Verwaltungsangestellte organisiert und rund 18000 Mitglieder hat.)
Nach den Streiks im Juni kündigte die RMT für den 27.Juli, den 18.August und den 20.August weitere Streiks an, denen sich auch TSSA-Mitglieder anschlossen. Für den 15. und den 17.September hat die RMT wieder zu Streiks aufgerufen. Die Aslef will am 15. ebenfalls streiken, während die TSSA für den 26. und 27.September zu Aktionen aufgerufen hat.

Unite
Im Busbereich ist Unite die größte Gewerkschaft – als Nachfolgerin der Transport and General Workers Union ist sie mit 1,4 Millionen Mitgliedern eine der größten in Großbritannien überhaupt. Die Gewerkschaft weist daraufhin, dass seit 2009 weit über 3000 lokale Buslinien gestrichen oder reduziert wurden, allein in London 41 Strecken im vergangenen Jahr. Einige Gebiete verlieren über die Hälfte oder sogar alle gemeindefinanzierten Busdienste. In anderen werden die Wochenend- und Abendverbindungen gestrichen. Und die Fahrpreise sind für Geringverdiener oft einfach zu hoch.
Mitte Juni kündigte die Londoner Verkehrsgesellschaft Transport for London an, weitere 16 Buslinien streichen zu wollen. Dies hätte 800 Fahrer:innen den Job genommen und für viele Menschen die Fahrzeiten erheblich verlängert. Die Gewerkschaft organisierte zusammen mit örtlichen Gewerkschaftsräten und Fahrgastgruppen sowie einigen lokalen Labour-Aktivisten während des Sommers eine öffentlichkeitswirksame Kampagne; es gab Märsche in verschiedenen Teilen der Hauptstadt und eine kurze Besetzung des TFL-Büros. Damit wurde eine Verlängerung der Verhandlungen erzwungen, die am 30.August in das Angebot mündete, 3,6 Mrd. Euro zuzuschießen, um das Defizit der TFL zu decken. Doch das reicht nicht, überdies soll die Regelung nur 18 Monate gelten.
Alle Bahngewerkschaften haben das Angebot daher abgelehnt und Unite wird dem sehr wahrscheinlich folgen. Am 31.August organisierte die RMT eine Großkundgebung, an der Redner:innen aus allen Verkehrsgewerkschaften teilnahmen. Hier wurde deutlich, wie groß der Wunsch nach weiteren koordinierten Aktionen ist.

Die Communication Workers Union (CWU)
Am 26.August streikten mehr als 115000 Postbeschäftigte für eine Lohnerhöhung, die die aktuellen Lebenshaltungskosten abdeckt. Es war der bisher größte Streik in diesem Kampfsommer. Die Postler streikten auch am 31.August sowie am 8. und 9.September. Bei einer Wahlbeteiligung von 77 Prozent sprachen sich 97,6 Prozent für den Streik aus. Es ist der erste nationale Streik bei der Post seit zwölf Jahren; traditionell finden in diesem Sektor lokale, inoffizielle Aktionen statt.

Andere
Ende August streikten 2000 Busbeschäftigte zwei Tage lang für höhere Löhne. Busbeschäftigte beteiligten sich auch an einem Arbeitskampf von Angestellten der Direktbank First Direct, bei dem diese nach acht Tagen Streik eine Lohnerhöhung von 8,9 Prozent plus einen Einmalbetrag durchsetzten.
Die Müllfahrer in Coventry konnten nach sieben Monaten ununterbrochenem Streik einen Lohnabschluss von bis zu 12,9 Prozent erzielen.
Mehr als 1900 Hafenarbeiter im größten britischen Containerhafen Felixstowe streikten Ende August acht Tage lang, um eine bessere Lohnerhöhung als die angebotenen 7 Prozent zu erhalten. Die Hafenarbeiter von der Westküste der USA erklärten sich solidarisch. 560 Arbeiter im Hafen von Liverpool traten ab dem 19.September für zwei Wochen für dasselbe Ziel in den Streik.
Auch eher untypische Sektoren von Erwerbstätigen sind in den Streik getreten. So die Anwälte für Strafrecht: Sie haben am 5.September einen unbefristeten Streik für eine 25prozentige Erhöhung ihrer Honorare begonnen – die Regierungen haben in den letzten 15 Jahren die Gebühren für Prozesskostenhilfe in Strafsachen um 30 Prozent gekürzt.
Inoffizielle Arbeitsniederlegungen gab es bei den Lagerarbeitern von Amazon in einer Reihe von Orten.
Auffallend an den Streikposten war die hohe Beteiligung junger Arbeiter:innen, die zum ersten Mal aktiv wurden.
Positiv ist auch, dass die Initiative für die Gründung der Kampagne gegen Preissteigerungen, Enough is Enough, insbesondere von der Gewerkschaft CWU ausging. Die Initiative setzt sich für angemessene Lohnerhöhungen, für die Senkung der Energiekosten, das Ende der Lebensmittelarmut, ein menschenwürdiges Zuhause für alle und die Besteuerung der Reichen ein. Innerhalb weniger Tage kamen 300000 Unterschriften dafür zusammen.

Terry Conway, 6.September 2022

*Gekürzt aus: https://internationalviewpoint.org/spip.php?article7804.

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