Lernprozesse für eine Gewerkschaftsbewegung im Alltag
Gespräch mit Katharina Wesenick
Nach elf Wochen Streik und 22 Verhandlungstagen endete im Sommer in Nordrhein-Westfalen einer der längsten Krankenhausstreiks in der BRD. Violetta Bock sprach mit Katharina Wesenick, NRW-Landesfachbereichsleiterin von Ver.di.
Wie kann man das Ergebnis zusammenfassen?
Das Ergebnis baut auf gewonnenen Auseinandersetzungen der letzten Jahre in der ganzen Republik auf. In den elf Wochen Streik ging es nicht zuletzt darum, die Idee der Einführung von Ratios zu verteidigen, d.h. also einen festen Verhältnisschlüssel zwischen Beschäftigten und Patient:innen und den sog. schichtgenauen Belastungsausgleich im Falle der Nichteinhaltung. Dieser Personalschlüssel wird im Tarifvertrag festgelegt und sobald er unterschritten wird, entstehen Ansprüche auf Entlastung, entweder durch Geldauszahlungen oder besser noch durch freie Tage.
Das Modell ist in den letzten Jahren an verschiedenen Krankenhäusern deutschlandweit durchgesetzt worden; die Arbeitgeber der Unikliniken in NRW aber haben diesen Sommer versucht, es zu brechen. Sie wollten den schichtgenauen Belastungsausgleich ersetzen durch einen pauschalen Ausgleich von fünf bis sieben Tagen pro Jahr. Das hätte die bundesweite Tarifbewegung, in der sich Beschäftigte im Gesundheitswesen erheben und selbst die Bedingungen für gute Gesundheitsförderung mitbestimmen, gestoppt oder fürs erste zum Erlahmen gebracht. Daher die Härte der Auseinandersetzung, die wir schließlich gewonnen haben. Wir haben das nicht nur für die Pflege am Bett durchgesetzt, sondern für weite Teile der Pflegenden.
Man kann diese ganzen Auseinandersetzungen nur vor dem Hintergrund des rigiden Fallpauschalystems lesen, das Kosten für eine Behandlung nicht am Bedarf, sondern pauschal ansetzt und so Fehlanreize setzt. In der Konsequenz wurde die letzten 20 Jahre am Personal gespart. Hunderttausende flüchteten aus dem Beruf. Die Kosten für die Pflege am Bett wird inzwischen durch die Bundesregierung direkt refinanziert, für alle anderen Bereiche im Krankenhauswesen aber nicht. Dort konnten wir diese Ratios nur durch ein Zugeständnis der NRW-Landesregierung durchsetzen, für die Mehrkosten aufzukommen. Das ist ein riesengroßer Erfolg. Wir hatten noch nie so viel Beschäftigte im Geltungsbereich eines Tarifvertrags Entlastung.
Weniger schön ist, dass das nicht alle kriegen.
Für manche haben wir das aufgrund der Kräfteverhältnisse nicht geschafft. Das zeigt die Grenze von Tarifkonflikten gegenüber gesetzlichen Finanzierungen. Man kann Spielräume ausweiten, aber nur etappenweise. So konnten wir etwa in den Betriebskindergärten 15 Prozent mehr Personal durchsetzen. Andererseits gibt es für Ambulanzen, Transportdienste und Serviceberufe wie Küche, Catering usw. nur pauschal 30 Stellen mehr an einzelnen Unikliniken, wo sie noch nicht ausgegliedert sind. Das ist ein Tropfen auf den heißen Stein.
Für die Pflege wird inzwischen zähneknirschend akzeptiert, dass wir zur gesetzlichen Personalbemessung zurückmüssen. Aber für die anderen Berufe, wie IT oder Verwaltung, gab es deutliche Signale von der Politik, dass da niemand durch eine Tarifierung die Büchse der Pandora öffnen möchte. Ein Krankenhaus funktioniert wie ein Zahnradwerk, wenn es an einer Stelle klemmt, hat das Auswirkungen auf alle. Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass wir in den pflegefernen Berufen nicht überall gleich stark aufgestellt waren.
Besonders kraftvoll und sichtbar ist das hingegen den Auszubildenden gelungen. Sie konnten erstmals ein festes Verhältnis zwischen Lehrer:innen und Schüler:innen durchsetzen. Sie haben u.a. die Quoten für Praxen und Praxisanleitung verbessert und zum Teil erst eingeführt – bei Nichteinhaltung gibt es automatisch einen Anspruch auf freie Tage. Die Abbruchquote ist wahnsinnig hoch im Gesundheitswesen und wir hoffen, dem damit etwas entgegenzusetzen.
Wie ist euch das gelungen?
Wesentlich war ein sehr solider Basisaufbau, ausgehend von den unterschiedlichen Stärken der Häuser und einigen tausend Mitgliedern, die sich in den letzten 20 Jahren organisiert und gekämpft haben. In den letzten zwölf Monaten hat sich die Mitgliederzahl verdoppelt. Wir haben die Tarifrunde der Länder letztes Jahr schon zu einer Anspracheoffensive genutzt und hatten viele externe Organizer:innen, ich nenne sie Expert:innen für Selbstermächtigung.
Sie nehmen sich systematisch strukturell wichtige Bereiche in einem Unternehmen vor, durchkämmen sie und suchen gezielt nach sog. Schlüsselpersonen – Beschäftigten, die hohes Vertrauen in der Belegschaft genießen und etwas verändern wollen. Diese werden eingeladen, in ihren Bereichen eine Mehrheit der Kolleg:innen zu überzeugen. Dafür braucht es einen überzeugenden Plan, wie man zum Ziel kommen will. Es geht darum, ein Schneeballsystem aufzubauen, in dem die Leute befähigt werden, für ihre Bereiche Verantwortung zu übernehmen. Diese werden wiederum auf der nächsten Ebene zusammengeführt. Zunächst im Haus, dann häuserübergreifend – bis hin zum Warnstreik und einem Gipfel mit 600 Kolleg:innen. Dieser fand im April 2022 in Oberhausen statt. Dort wurden in den mehrheitlich organisierten Bereichen Forderungen diskutiert.
Der Zusammenhang von Mitgliedschaft, Ergebnis und Einfluss ist wichtig. Mit der Mehrheitsbildung entsteht das Recht, sich zu beteiligen und Einfluss zu nehmen. Die Forderungen wurden dann über alle Häuser hinweg für die jeweiligen Bereiche abgeglichen und von der Ver.di-Tarifkommission beschlossen, die sich ebenfalls häuserübergreifend konstituiert hat. Anschließend wurden sie dem Arbeitgeber übergeben.
In den Tarifverhandlungen begründeten Delegierte aus den einzelnen Bereichen dem Arbeitgeber ihre Forderungen, weil wir es im Gesundheitswesen mit sehr komplexen Zusammenhängen zu tun haben. Da wurde richtig wissenschaftlich gearbeitet, und auch auf Studien verwiesen. Es ging nicht nur um Ermächtigung, es ging auch um Qualität. Das gibt dem Ganzen eine unglaubliche Legitimität und Wahrhaftigkeit.
Wie waren die Erfahrungen mit der Rückkopplung zu allen Streikenden während der Verhandlungen?
Idealerweise hätten wir permanent alles rückgekoppelt. Das wurde durch zwei Dinge erschwert. Erstens die weiten Entfernungen zwischen den Standorten im Flächenland NRW. Wir haben mit einem Delegiertenrat als Zwischengremium zu denen experimentiert, die vor Ort die Stellung halten. Das ist eine Gretchenfrage in jeder Demokratie. In der Fläche ist das schwierig, wenn man gleichzeitig die Leute vor Ort zur Stabilisierung des Streiks braucht. Da muss man schon sehr breit aufgestellt sein, zumal die Arbeitgeber auf Zeit spielten und wochenlang trotz Erzwingungsstreiks in den Verhandlungen nichts passierte. Und es hat auch was mit Ressourcen zu tun. Die braucht man nämlich, um angesichts von Komplexität und – gegen Ende der Verhandlungen – sich beschleunigenden Entwicklungen immer alle im Infofluss zu halten.
Zweitens: Zeit. Die Delegierten waren oft frustriert, sind extra zum Verhandlungsort angereist, saßen stundenlang rum und konnten eigentlich kaum was berichten. Und dann kamen wir an einen Punkt, an dem es eng wurde, weil politisch eine Schlichtung drohte und die hätten wir wahrscheinlich nicht verhindern können. Denn neben dem Streik war eine sehr komplexe und breit angelegte Öffentlichkeits- und politische Kampagne wichtig, um so lange durchzuhalten. Die gesellschaftlichen Mehrheiten für uns wären ggf. gekippt, wenn wir uns der Schlichtung entzogen hätten, d.h. wir standen unter Zeitdruck. Zudem war das Arbeitgeberlager hoch zerstritten, manche hatten kein Interesse an einer guten Einigung. Deshalb war eine kleinere Verhandlungsrunde auch in unserem Interesse. Und wenn es am Ende dann schnell geht, werden die Rückkoppelungsfenster kleiner. Das tut dann erst mal weh, wenn man eigentlich den Anspruch hat, man will immer bei allem dabei sein. Aber in dieser konkreten Situation war das m.E. absolut notwendig, um einen Knopf dran zu machen. Da habe ich schon viel gelernt über die Dialektik von Beteiligung und Zeit.
Wir haben das Ergebnis natürlich mit der ganzen Tarifkommission diskutiert und im Delegiertenrat abgestimmt. Dann sind wir zur Abstimmung in die Streikzelte, und erst dann hat die Tarifkommission es angenommen – unter dem Vorbehalt der Urabstimmung unter den Mitgliedern. Es liegt in der Logik von Verhandlungen, dass sich am Ende für ein Ergebnis die Zeit beschleunigt. Während des Streiks hatten wir wochenlang Rückkoppelungsschleifen, aber auf den letzten Metern zur Einigung ist die Beteiligung kleiner geworden – um ein Ergebnis zu erzielen, ist an dieser Stelle die Methodik dem Inhalt gewichen.
Wie geht es jetzt weiter?
Wir gehen erst jetzt mit ein bißchen Abstand in die Auswertung. Es hat ja eine verdichtete Erfahrung von Ausnahmezuständen auf allen Ebenen stattgefunden, und es lohnt sich, nach Licht und Schatten, Übertragbarkeiten, Einmaligkeiten und Lernmöglichkeiten zu schauen. Dafür finden Bildungsurlaube mit hunderten Ver.di-Aktivist:innen aus den sechs Unikliniken statt. Und da geht es auch um den nächsten gewerkschaftlichen Schritt, betrieblich die Umsetzung zu überwachen, voranzutreiben, und Ver.di im betrieblichen Alltag außerhalb des Streiks in die Normalität zu bringen.
Wie wird all das in der Gesamtorganisation wahrgenommen?
Es gibt, wie immer, den wohlwollenden und den kritischen Blick. Einig sind sich nahezu alle über den politischen Erfolg. Kritisch wird gesehen, dass wir für eine Auseinandersetzung dieser Größe auf externe Ressourcen und externes praktisches Handlungswissen angewiesen sind. Ich wünschte mir, das wäre anders, aber im Hier und Jetzt war dies aus meiner Sicht gerechtfertigt. Mit der regulären Ressourcenausstattung schaffen wir es (noch) nicht, gezielt Kraftzentren zu entwickeln und genug Machtpotentiale zu heben, um einen solchen qualitativen Sprung wie beim Tarifvertrag Entlastung zu gehen.
Es stellt sich also die Frage: Was müssten wir tun, um es selber zu schaffen? Da müssen wir viel von den Impulsen dieses Projekts aufnehmen und uns auch unbeliebten große Strukturfragen wie der Ressourcenverteilung stellen.
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