Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 10/2022

Der Kapitalismus braucht die Spaltung der von ihm Beherrschten
von Christian Frings

Eleonora Roldán Mendívil, Bafta Sarbo (Hrsg.): Die Diversität der Ausbeutung. Zur Kritik des herrschenden ­Antirassismus. Berlin: Dietz, 2022. 196 S., 16 Euro

Mit Beiträgen von Celia Bouali, Debora Darabi, Sebastian Friedrich, Christian Frings, Fabian Georgi, Eleonora Roldán Mendívil, Lea Pilone, Bafta Sarbo, Hannah Vögele.

Eleonora Roldán Mendívil, geb. 1988, lebt in Berlin und ist Politikwissenschaftlerin, Autorin und Politische Bildnerin mit den Schwerpunkten marxistische Gesellschaftskritik, (Anti-)Rassismus, Geschlechterverhältnisse und historische Bildung.
Bafta Sarbo, geb. 1994, ist Sozialwissenschaftlerin. Sie lebt in Berlin und beschäftigt sich mit marxistischer Gesellschaftskritik, (Anti-)Rassismus, Migration und Polizeigewalt. Politisch ist sie unter anderem aktiv im Vorstand der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland.

Wer vom Kapitalismus nicht reden will, soll vom Rassismus schweigen. Auf diese Formel, die sich an einen bekannten Satz von Erich Fried anlehnt, lassen sich Inhalt und Intention des hier besprochenen Buches bringen. Christian Frings hat ihm ein Vorwort vorangestellt, in dem er nachzeichnet, wie es kommen konnte, dass sich ein solcher »liberaler Antirassismus« ab den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts durchgesetzt hat.
In Deutschland wird von Antidiskriminierungsstellen bis zur radikalen Linken ein liberaler Rassismusbegriff vertreten, der vor allem auf Repräsentation, Inklusion und Diversität setzt. Wie Klasse und »Rasse« zusammenhängen, wird aktuell so gut wie nicht diskutiert. Dabei gibt es durchaus eine kritisch-marxistische Tradition der Rassismusforschung.
Das vorliegende Buch will diesen Fundus heben. Hierzu werden historische und aktuelle Diskussionen aus dem englischsprachigen Raum rezipiert sowie aus deutschsprachigen marxistischen Wissensarchiven aktualisiert. Gleichzeitig bietet das Buch eine politische Intervention in die aktuelle Debatte um strukturellen und institutionellen Rassismus – ob auf dem Arbeitsmarkt oder bei der Polizei – und präsentiert Alternativen zum liberalen Antirassismus, indem ein marxistischer Rassismusbegriff in Theorie und Praxis vorgestellt wird.
»Sklaverei kommt nicht von Rassismus, Rassismus kommt von ­Sklaverei«, zitiert die Herausgeberin Bafta Sarbo den Politiker Eric Williams, der mit seiner Partei People’s National Movement die ehemalige britische Kolonie Trinidad and Tobago 1962 in die Unabhängigkeit führte und der erste Premierminister des Landes wurde. Der Fokus des Buches liegt auf den materialistischen Grundlagen des Rassismus, die derzeit in den Ansätzen des liberalen Antirassismus keine Rolle spielen.
»Vor allem in Deutschland wird ein ethnisch segregierter Arbeitsmarkt als Ergebnis von Rassismus oder einer sog. Fremdenfeindlichkeit begriffen und damit vor allem zum Gegenstand von Antidiskriminierungspolitik«, konstatiert Sarbo. »Ob Rassismus dabei als ideologischer Diskurs oder als internalisiertes Bild ›der Anderen‹ definiert wird: in der Regel handelt es sich um einen Rassismusbegriff, der Rassismus in erster Linie auf Bewusstseinsprobleme reduziert. Dem entspricht ein Antirassismus, der Rassismus hauptsächlich im Bewusstsein dekonstruieren will.«
Das Buch wird hoffentlich eine Debatte lostreten, die längst überfällig ist. Das bedeutet, einen linken Antirassismus wiederzubeleben, der die materiellen Grundlagen des Rassismus in den Vordergrund stellt und sich nicht in identitären Spaltungsprozessen verirrt.

Was einstmals Gesellschaftskritik war, ist zur moralischen Kritik am Verhalten von Individuen verkommen. Das Diktum von Margaret Thatcher von 1987 scheint bis weit in linke Kreise hinein zur unausgesprochenen sozialtheoretischen Grundlage geworden zu sein: »So etwas wie Gesellschaft gibt es nicht. Es gibt nur individuelle Männer und Frauen … und die müssen sich um sich selber kümmern.« Nach links gewendet bedeutet diese Grundannahme, dass sich alle Probleme, seien es die der Ökologie, der Geschlechterverhältnisse, des Rassismus oder auch der Klassenverhältnisse, lösen ließen, wenn sich die Individuen nur läutern und korrekt verhalten würden. Das Reden von strukturellem Rassismus oder Sexismus bleibt hohl, weil die Gesellschaft nicht mehr benannt werden kann.

Vom Verschwinden der Gesellschaft
Mit ihrer Aussage wollte Thatcher natürlich das böse Wort vom Tisch fegen, mit dem der Kern der gesellschaftlichen Misere bezeichnet wurde: Kapitalismus. Denn wenn es keine Gesellschaft gibt, kann es auch keinen Kapitalismus geben, keine gesellschaftlichen Strukturen, die dem noch so gut gemeinten individuellen Verhalten Grenzen setzen und ihm als ein übermächtiges und heute globales System verdinglichter Verhältnisse vorausgesetzt sind. Und diese Grenzen werden in dem Maße unsichtbarer, in dem es an kollektiven Kämpfen fehlt, die an den Grundfesten dieser Gesellschaft rütteln können.
Dass Thatchers TINA, »There is no alternative« (»Es gibt keine Alternative«), zum Lebensgefühl einer ganzen Generation werden konnte, verdankte sich dem abrupten Ende radikaler Klassenkämpfe nach 1979. Der Kapitalismus und seine Weise der Vergesellschaftung der Menschen über sachliche Waren- und Geldbeziehungen wurden damit zu einer derart selbstverständlichen und unveränderlichen Alltagsrealität, dass sich kaum noch über das historisch Besondere dieser Gesellschaft reden ließ.
Dieser Verlust einer Kritik des Kapitalismus als solchem, nicht nur an seinen unappetitlichen Äußerungen, an denen sich auch bürgerliche Gemüter stören und die heute im Mittelpunkt linker Debatten stehen, hat die gesamte Matrix verschoben, in der wir Rassismus, Sexismus, Naturzerstörung und viele andere Formen der Unterdrückung und alltäglichen Demütigungen verorten. All diese Manifestationen kapitalistischer Ausbeutung und Herrschaft werden nur noch als »Diskriminierung« benannt und damit nur in dem begrenzten Maße kritisiert, in dem sie gegen das bürgerliche Ideal der formalen Gleichheit von Warenbesitzer:innen verstoßen.
Das grundlegende Klassenverhältnis, das auf der Abtrennung der Mehrheit der Menschen von den Produktionsmitteln und dem damit gegebenen »stummen Zwang« zum Verkauf ihrer Arbeitskraft in der einen oder anderen Form beruht, wird durch diesen Maßstab der Kritik ausgeblendet und faktisch legitimiert. Die als »Diskriminierung« gefassten Formen der Unterdrückung stehen in keinem Verhältnis mehr zur alltäglichen Ausbeutung von lebendiger Arbeit, ohne die es so etwas wie Kapital, Profit, Zins usw. gar nicht geben könnte. Die einzelnen Unterdrückungsformen werden fein säuberlich isoliert und als für sich bearbeitbar und »adressierbar« hingestellt, ohne noch das Große und Ganze im Blick zu haben.
Das derzeit in Mode gekommene Reden von »Intersektionalität« hebt dieses Verschwinden der Gesellschaft aus der Kritik nicht auf, sondern verstärkt es noch. Die Betonung multipler Formen von Diskriminierung versucht nur konsequenter, das bürgerliche Gleichheitsideal in Anschlag zu bringen, statt seine Widersprüchlichkeit und Begrenztheit zu kritisieren. […]
An die Stelle kollektiver rebellischer Kämpfe von unten sind der Staat und das vereinzelte Individuum getreten. Was kann oder soll der Staat tun, um dem Kapitalismus sein »menschliches Antlitz« zu verschaffen? Und wie sollen die vereinzelten, atomisierten Individuen durch ein moralisch möglichst korrektes Verhalten und Sprechen (denn viel mehr als Sprechen bleibt uns nicht angesichts der Abwesenheit von kollektiven Kämpfen) zu dieser Menschlichkeit der Gesellschaft, also des Kapitalismus, beitragen? Damit existiert keine Subjektivität mehr, die in ihrer Praxis einen Gegensatz und eine Alternative zur kapitalistischen Vergesellschaftung bieten könnte. Und dies wiederum begrenzt den gedanklichen Horizont der Kritik.

Selbstoptimierung reicht nicht
Die Texte in diesem Sammelband stammen von Menschen, die in diese Zeit eines scheinbar alternativlosen Kapitalismus hineingeboren sind und nun wieder nach dem Zusammenhang zwischen Rassismus und dem globalen kapitalistischen System fragen. Das politische Unbehagen an dem, was die Herausgeberinnen treffend als »liberalen Antirassismus« bezeichnen, wird in der letzten Zeit wieder deutlicher artikuliert. Eloquent und bissig zerlegt etwa Emma Dabiri in ihrem Buch Was weiße Menschen jetzt tun können, dessen Titel ironisch auf die moralische Selbstoptimierungsliteratur anspielt, die Mängel des liberalen Antirassismus, der vom Kapitalismus nicht sprechen will.
Ziel des Sammelbands ist es, die materiell-gesellschaftlichen, also kapitalistischen Wurzeln des Rassismus wieder in die Diskussion zu bringen und einen ernsthaften Antirassismus auf die materiellen Kämpfe in dieser Klassengesellschaft zu beziehen. Warum dieses wichtige Anliegen vor so großen Schwierigkeiten steht und die Texte vermutlich heftige Diskussionen auslösen werden, hat mit der Geschichte des Auseinanderfallens von Antirassismus und Klassenkampf zu tun.
Kämpfe gegen Rassismus oder Frauenunterdrückung, die heute als »Identitätspolitik« gelten, werden einer sog. Klassenpolitik entgegengestellt oder von den Repräsentant:innen der Klassenpolitik faktisch als »Nebenwiderspruch« benannt, ohne dieses verpönte Wort explizit zu verwenden. Es stammt aus der sozialdemokratischen Frauenbewegung des 19.Jahrhunderts, die die besonderen Bedürfnisse und Forderungen von Frauen den hehren Zielen und der organisatorischen Geschlossenheit einer Partei unterzuordnen hatte, die vorgab, die ganze Arbeiterklasse zu repräsentieren. Die damit verbundene Gleichsetzung von Partei- oder Gewerkschaftspolitik mit dem Klassenkampf ist die entscheidende Grundlage für die heutige Gegenüberstellung von »Identität« und »Klasse«.
Von beiden Seiten wird dieselbe Erzählung des Auseinanderfallens vorgetragen, nur mit umgekehrten Vorzeichen: Einst habe es eine geeinte Arbeiterklasse gegeben, die heldenhaft gegen den Kapitalismus kämpfte. Aber dann hätten sich in den 1970er Jahren die vielen »Identitäten« – Frauen, Schwarze, Schwule, Lesben usw. – mit ihren Sonderinteressen in den Vordergrund gedrängt, die schöne Einheit des Proletariats zerstört, den Klassenkampf geschwächt und den Siegeszug des Neoliberalismus begünstigt.
Von der anderen Seite erzählt, lautet die Geschichte, dass dem Klassenkampf schon immer die Interessen von Frauen, Schwarzen, migrantischen Menschen usw. zum Opfer fielen und im Kampf für den Sozialismus als bloße Nebenwidersprüche abgetan wurden – ein für die Geschichte der sozialdemokratischen Partei- und Gewerkschaftspolitik sicherlich zutreffender Befund.
Die politischen Konsequenzen, die sich aus diesem Bild ergeben, sind klar: Die Klassenposition träumt von einer Rückkehr zu den goldenen Zeiten einer sozialdemokratisch geeinten Arbeiterklasse, während sich die Vertreter:innen von »Identitätspolitik« enttäuscht von der Arbeiterklasse abwenden müssen und damit auch das Faktum, dass die Marktwirtschaft in Wirklichkeit eine Klassengesellschaft ist, nicht mehr berücksichtigen können. Der Modus des Markts und der Konkurrenz scheint dann geeigneter, die eigenen Interessen durchzusetzen.
Diese Gegenüberstellung und die ihr zugrunde liegende Erzählung lassen sich zwar theoretisch kritisieren, wozu die Beiträge in diesem Band beitragen wollen, aber praktisch gar nicht so leicht auflösen, solange Klassenpolitik das bleibt, was sie heute ist, und eine Alternative zu den Marktmechanismen unmöglich erscheint. […]

Klassenspaltung
Nicht der Klassenkampf wurde also […] geschwächt, sondern die Einhegung und Pazifierung des Klassenkampfs, die mit dem Wohlfahrtsstaat und der Einbindung der Gewerkschaften in ihn nach dem Krieg erreicht werden sollten. Was die Bewegungen von Frauen und Schwarzen in den 1960er und 1970er Jahren kritisierten, war nicht der Klassenkampf gegen den Kapitalismus, sondern der Umstand, dass der Klassenkampf sich in seiner gewerkschaftlichen Form an viel zu vielen Punkten mit dem Kapitalismus abgefunden hatte, statt an den Grundfesten seiner Herrschaft zu rütteln. Und zu diesen Grundfesten gehören wesentlich die Hierarchien und Spaltungen innerhalb der Klasse, die eine stabile Ordnung der Ausbeutung erst möglich machen.
Ausgehend von Marx’ Kritik am Fetischcharakter des Kapitals ist es nur konsequent, den Klassenkampf in seiner antagonistischen Dimension als einen Kampf der Klasse gegen sich selbst zu fassen. Das Kapital ist kein eigenständiges und übermächtiges Subjekt in der Gesellschaft, sondern es ist die Verdinglichung eines sozialen Verhältnisses, des grundlegenden Klassen- und Produktionsverhältnisses. Es beruht auf der täglichen Arbeit von Milliarden von Proletariern, denen das Produkt ihrer eigenen Arbeit als fremdes Subjekt gegenübertritt, von dem sie geknechtet werden.
Wie Marx im IV. Abschnitt in Band I des Kapitals in bezug auf die Produktion des relativen Mehrwerts analysiert, kann dieses tägliche Arbeiten und damit die tägliche Ausbeutung nur gelingen, wenn die Klasse der Eigentumslosen durch eine »eigentümliche Zusammensetzung« vielfältig gespalten und hierarchisch gegliedert ist. Mit den explosiven Kämpfen in den 1960er und 1970er Jahren wurden diese Hierarchien infragegestellt und damit sehr viel grundlegender die Macht des Kapitals. […]
In der autonomen Szene, die sich Anfang der 1980er Jahre aus dem Häuserkampf entwickelte, wurde zwar noch eine antikapitalistische Sprache gepflegt, aber es gelang nicht mehr, diese verbale Kritik mit den einzelnen Kämpfen zu verbinden.
Im Hinblick auf die Konjunkturen der antirassistischen Mobilisierungen zeigte sich dies sehr deutlich an den Reaktionen auf die sog. »Flutkampagne« von 1986. […] Der damalige Innenminister Friedrich Zimmermann und andere lancierten in dem Sommer die Gefahr einer drohenden »Asylantenflut« und forderten rechtliche Einschränkungen des Asylrechts. In vielen Städten bildeten sich daraufhin »Flüchtlingsgruppen«, die praktische Solidaritätsarbeit mit geflüchteten Menschen versuchten und gegen die Lagerunterbringung oder Abschiebungen protestierten. Aber wie sich das mit einer Kritik am globalen Kapitalismus verbindet, ließ sich kaum noch diskutieren.
Ein letzter Versuch, wenigstens theoretisch diesen Zusammenhang herzustellen und den damals entstandenen Flüchtlingsgruppen eine politische Orientierung zu geben, war das sog. Medico-Papier aus dem gleichen Jahr, das aus dem Umfeld der Zeitschrift Autonomie/Neue Folge stammte:
»Wie aber ist Antiimperialismus dann noch zu fassen, wenn nicht als … Kampf, der sich an all diesen Fronten gleichzeitig gegen die Herrschaft des Imperialismus auflehnt? Und welches soll das hegemoniale soziale Subjekt in diesem Kampf sein, wenn nicht die Mehrheit der Weltbevölkerung aus den Slums und Lagern? Die Gleichzeitigkeit von Soweto und Toxteth, die Landbesetzungen in Mato Grosso und auf Negros, die Revolten in Kairo und Seoul, das sind die Punkte, an denen sich der antiimperialistische Kampf entwickelt.
»Und auch, wenn es einem nicht leicht über die Lippen geht angesichts des realen Flüchtlingselends: Letztlich braucht die Ausbreitung eines sozialrevolutionären Antiimperialismus auch die Mobilität des Weltproletariats – der entscheidende Punkt ist, welche selbstbestimmten Momente und proletarischen Gebrauchsformen diese Mobilität gewinnen kann. Wenn wir von einer gigantischen Umschichtung der Weltbevölkerung auszugehen haben, dann ist die Frage noch offen, ob dieser Prozess zur produktiven Reorganisation des Imperialismus führt oder zu einem antiimperialistischen Kampf auf neuer Stufe.
»Auch wenn die Flüchtlinge hier in den Lagern und auf dem illegalen Arbeitsmarkt enden, so präsentieren sie doch einen Anspruch auf Überleben und Entschädigung, sie sind Teil des internationalen Klassenkampfs. Sich von einer antiimperialistischen Position her auf sie zu beziehen heißt, nicht nur ihr Recht auf Asyl, sondern ihren Anspruch auf Freizügigkeit, Selbstbestimmung, Einkommen zu verteidigen, heißt, den internationalen Klassenkampf in die Metropolen hereinzuholen und heißt, die Flüchtlinge vor der Verwertung als Manövriermasse repressiver Sozialpolitik zu schützen.«

Von triple oppression zu Intersektionalität
Aber Theorie und Praxis des Antirassismus entwickelten sich auch in der linken Szene immer stärker in die Richtung eines liberalen Antirassismus, der sicherlich auch unter dem Eindruck des neuen rechtsextremen und gewalttätigen Rassismus in Deutschland nach 1989 als das kleinere Übel oder letzter möglicher Halt hingenommen wurde.
In diesem Sinne wirkte auch einer der ersten Importe neuerer Theorien aus den USA, der sich an die hiesige autonome Szene richtete – das Buch Drei zu Eins. Klassenwiderspruch, Rassismus und Sexismus von Klaus Viehmann u.a., das 1990 einige Diskussionen auslöste. Es führte den Begriff der triple oppression ein, als von Intersektionalität noch nicht die Rede war. Es löste damit schon damals die Frage des Antirassismus und Antisexismus aus ihrem Zusammenhang mit dem Kapitalismus heraus und bot der Szene nur noch die Perspektive einer moralischen Selbstvergewisserung. In einer Kritik hieß es damals:
»Der Text verstärkt die Tendenzen in der autonomen Linken, sich in lauter Mikrowidersprüche zu verrennen, sich von jeder sozialen Realität abzukoppeln und letztlich nur mit der Gewissheit ›Wir haben die bessere Moral‹ in Kontakt nach außen zu treten. Das wird dann legitimierbar durch ›die sind sexistisch, die sind rassistisch, die sind…‹ Und genau deshalb werden die ›Autonomen‹, die in dem Text ständig kritisiert werden, durch die Lektüre eher in ihrer Haltung bestätigt. Denn in einer zunehmend chaotischen Welt gibt er die Gewissheit, auf der richtigen Seite zu stehen. Aber er gibt wenig in die Hand, die lebendigen Widersprüche zu untersuchen, zu verstehen und politisch in sie einzugreifen.«
Mit diesem kursorischen und höchst unvollständigen Rückblick auf das allmähliche Verschwinden des Kapitalismus aus dem linken oder linksradikalen Antirassismus will ich nur unterstreichen, warum ein Sammelband wie der vorliegende so wichtig ist, um in den kommenden Debatten und in der politischen Praxis wieder eine gesellschaftskritische Perspektive von unten entwickeln zu können. Rassismus ist keine zufällige Begleiterscheinung des Kapitalismus, sondern strukturell mit ihm verbunden. Eine Gesellschaft, die systematisch auf Ausbeutung beruht, wird immer auf Formen der Spaltung und der Herabsetzung von Menschen angewiesen sein. Diese Formen können sich ändern. Manche können etwas gewinnen, während andere verlieren. Aber mehr hat ein liberaler Antirassismus nicht zu bieten, der die als freie Marktwirtschaft getarnte Klassengesellschaft des Kapitalismus weder theoretisch noch praktisch infrage stellen will.

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