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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 10/2022

Wie haben vier Jahre Bolsonaro Brasilien verändert?
von Jürgen Kreuzroither

Niklas Franzen: Brasilien über alles. Bolsonaro und die rechte Revolte. Berlin/Hamburg: Assoziation A, 2022. 207 S., 18,95 Euro

Nach vier Jahren Bolsonaro an der Staatsspitze steht Brasilien vor einem Scherbenhaufen.
Die Covid-Pandemie hinterließ knapp 700000 Tote (das ist weltweit die höchste Todesrate unter den großen Flächenstaaten). Sieben Millionen Brasilianer:innen sind wieder unter die Armutsgrenze gerutscht, womit das Land erneut auf der FAO-Hungerlandkarte Platz genommen hat, und die Regierung steht, nicht zuletzt aufgrund ihrer desaströsen Umweltpolitik, als internationaler Paria da.
Vor solchen Folgen hatten Politikbeobachter:innen schon vor Bolsonaros Wahl 2018 gewarnt. Und obwohl sein großes Feindbild Lula da Silva nach gelungener juristischer Rehabilitation bei der im Oktober bevorstehenden Wahl erneut kandidiert und in Führung liegt, kann der Rechtsextremist, dieser desaströsen Bilanz zum Trotz, auf ein gutes Viertel des Wahlvolks als eingefleischte Anhänger:innen zählen.
Wie ist es zur Wahl dieses langjährigen parlamentarischen Hinterbänklers mit bescheidenem Redetalent gekommen? Wieso kann er nach wie vor eine eingeschworene Anhängerschaft für sich verbuchen? Was haben vier Jahre »Bolsonarismus« im Land verändert und was wird aus dieser Bewegung nach der aktuell wahrscheinlichen Wahlniederlage? Diesen Fragen geht Niklas Franzen mit Engagement und Kenntnisreichtum auf den Grund. Er berichtete mehrere Jahre von São Paulo aus als Korrespondent für Tageszeitungen wie Taz und Neues Deutschland.
Wiewohl er den globalen Aufschwung des Rechtspopulismus nicht außer acht lässt, konzentriert sich Franzen auf brasilianische Spezifika. Zum Punkt (fehlendes) Geschichtsbewusstsein erwähnt er den Mythos von der brasilianischen Rassendemokratie, die gern als positiver Kontrast zur Rassentrennung à la USA vorgebracht wird. Dabei wird zum Beispiel die Tatsache, dass der südamerikanische Riese in der westlichen Hemisphäre der letzte bei der Abschaffung der Sklaverei war (1888) geflissentlich unter den Tisch gekehrt.
Auch die Militärdiktatur (1964–1986) wird gern als halb so schlimm, etwa im Vergleich mit Argentinien oder Chile, dargestellt, sodass Bolsonaro ohne großen Aufschrei wiederholt behaupten kann, die Armee habe damals nicht hart genug durchgegriffen, weshalb die (kulturmarxistische) Linke heute ein großes Problem für das Land sei.
Weitere lange Kapitel, die sich dem Aufstieg Bolsonaros widmen, gehen auf die Politik der vorgegangenen PT-Administrationen (Lula, Rousseff) ein und die erfolgreiche Social-Media-Strategie der Rechten. So war die in vielerlei Hinsicht sehr erfolgreiche Politik der Arbeiterpartei auch von einer zunehmenden Passivierung der sozialen Bewegungen begleitet. Der Aufstieg von Millionen Brasilianer:innen als Konsumierende hatte Vorrang vor dem politischen Emanzipationsprojekt, das die PT einst auszeichnete. Und in Sachen Internetkommunikation waren die Rechten 2018 meilenweit voraus, und das in einem Land, das weltweit führende Durchdringungsraten bei den »neuen sozialen Medien« aufweist.
Im Schlusskapitel erfährt das andere, widerständige Brasilien eine kritische Würdigung, die so gar nicht zu dem von den Eliten gepflegten Bild desbequemen, konfrontationsscheuen Bürgers passt. Auch geht Franzen auf die erkennbare Strategie Lulas ein, als großer Versöhner einen möglichst breiten Schulterschluss zu erreichen. Diese Positionierung wird angesichts des schon einmal begangenen Verrats durch die Zentrumsparteien vielfach kritisiert, doch sieht der Autor angesichts der fortgeschrittene Polarisierung durch den Bolsonarismus keine Alternative zu Lula.
Ein flott zu lesender, informativer Reader pünktlich zu den nächsten Bundeswahlen.

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