Fußball ist auch für Linke ein wichtiges Interventionsfeld
von Gerhard Klas
»Sport ist unpolitisch« – das war schon immer falsch. Sportliche Großereignisse unisono als »Brot und Spiele« zur Ablenkung der Bevölkerung abzutun, ist heute mindestens grob fahrlässig. Das gilt vor allem für den Fußball, der wie kaum eine andere Sportart Abbild der internationalen Klassengesellschaft geworden ist.
Das beschreiben die beiden Fußballexperten Dietrich Schulze-Marmeling und Bernd M. Beyer in diesem Schwerpunkt zur Fußball-WM in Katar – und ein Arbeitsmigrant, der dort auf den Baustellen arbeitet.
Der Fußball hat in den vergangenen Jahrzehnten tiefgreifende Veränderungen durchgemacht: Er ist vom Proletensport zum Kommerzevent geworden, die größeren Vereine sind heute mittelständische Konzerne. Im Geschäft mit dem Fußball werden Milliarden verdient, nicht nur von Spitzenfußballern, sondern auch von den Fußballfunktionären der großen Verbände, von Streamingdiensten wie Sky, DAZN und anderen, die in das lukrative Geschäft einsteigen.
Ausbeutung im Fußball
Man könnte es sich einfach machen und sagen: So eine Kommerzscheiße lehne ich ab, will überhaupt nichts damit zu tun haben. Aber so einfach ist es nicht. Erstens sind da die kapitalistischen Ausbeutungsverhältnisse: Die Spitze des Eisbergs stellen hier ohne Frage die Arbeitsmigranten dar, die bei über 40 Grad im Schatten mehr als zehn Stunden täglich auf den Baustellen für die neuen Stadien in Katar malochen mussten und von denen nicht wenige aus Erschöpfung und Dehydrierung einfach tot umkippen. Mehrere tausend sollen auf den Baustellen in Katar in den letzten Jahren ums Leben gekommen sein.
Eher wenig sichtbar sind die vielen brasilianischen Kleinhändler, die bei der dortigen WM 2014 den internationalen Fast-Food- und Softdrink-Ketten weichen mussten. Oder die Ausbeutung in hiesigen Stadien: Die Ordner in Fußballstadien gehören zu den am schlechtesten bezahlten in der Sicherheitsbranche. Abgesehen von den Geschäftsführungen, den Lizenzspielern und ihren Trainern arbeiten die anderen in »normalen« Beschäftigungsverhältnissen. Outsourcing und Niedriglohn sind keine Seltenheit. Wie in anderen Branchen ging es während Corona auch in vielen Fußballclubs um Stellenabbau. Da es kaum Betriebsräte gibt, konnten die Geschäftsführungen fast im Alleingang schalten und walten.
Nur sechs von 36 Erst- und Zweitligaclubs in Deutschland haben einen Betriebsrat, obwohl die meisten von ihnen heute große Wirtschaftseinheiten mit mehreren hundert Beschäftigten sind: Der FC St.Pauli war 2002 der Vorreiter, es folgten Borussia Dortmund 2005, VfL Wolfsburg 2010, dann 2018 der Hamburger SV und Schalke 04 – gegen den Widerstand der damaligien Tönnies-Geschäftsführung – und schließlich im letzten Jahr der VfB Stuttgart.
Engagierte Fans
Ein zweiter Grund für Linke, sich mit Fußball zu befassen, ist die Tatsache, dass es sich hier um eine Massenveranstaltung mit einer Reichweite handelt, die andere gesellschaftliche Großereignisse in den Schatten stellt. In der Saison 2021/22 verfolgten pro Spieltag allein in den obereren beiden Ligen zwanzig Millionen Menschen die Spiele – im Stadion, bei den Streamingdiensten oder im Radio. Da können weder Konzerte von Rockstars mithalten, noch 1.-Mai-Kundgebungen von Gewerkschaften oder Streiktage von Fridays for Future. Nur einige Blockbuster der Filmindustrie kommen auf ähnliche Zahlen – vielleicht auch noch die Kirche an Heiligabend.
Hinzu kommt: Fußballfans sind alles andere als eine dumpfe Masse. Im Gegenteil. Den Widerstand gegen die Kommerzkultur im Fußball haben sich vor allem die Ultra-Gruppierungen auf die Fahnen geschrieben, die etwa fünf Prozent der Fans in den Stadien ausmachen, deren Ansichten in bezug auf den Fußball aber auch von anderen Fans geteilt werden. Sie versuchen unter anderem die sportlichen Ideale des Traditionsfußballs hoch zu halten, einschließlich seines proletarischen Charakters. Sie kämpfen für billige Tickets, gegen den Deutschen Fußballbund, Großinvestoren und Kollektivstrafen.
Die meisten von ihnen sind politisch eher links einzuordnen: Sie wehren sich gegen staatliche Kontrollmaßnahmen und stellen sich gegen Rassismus, einige wenige üben sogar offen Kapitalismuskritik. Nicht nur die Ultras von St.Pauli sind bekannt für ihre antifaschistischen Aktivitäten, auch bei anderen Clubs gibt es Ultra-Vereinigungen, die zum Kampf gegen Rechts aufrufen. »Heute abend für den FC, morgen gegen die AfD«, hieß es zum Beispiel 2017 auf einem Transparent, das quer über die ganze Südkurve des Kölner Stadions hing. Und tatsächlich beteiligten sich auch einige Ultras an den Blockaden gegen den rechten Parteitag. In vielen – aber bei weitem nicht allen – Fußballclubs ist es Ultras gelungen, rechte Hooligans aus den Stadien zu drängen.
Und im Ausland?
Auch in anderen Ländern spielen Ultras immer wieder eine signifikante Rolle in widerständigen Bewegungen. In Brasilien sind die Fankurven einiger Fußballstadien Versammlungsorte der Opposition gegen Bolsonaro. Am Widerstand gegen die Räumung des Gezi-Parks in Istanbul haben sich Ultras aller drei großen dort angesiedelten, sportlich rivalisierenden Vereine beteiligt, besonders aber die Gruppierung Çarsi vom Club Be?ikta?. Einige von ihnen wurden anschließend zu jahrelangen Haftstrafen verurteilt.
Und auch bei der Arabellion auf dem Tahir-Platz in Kairo standen Ultras in der ersten Reihe, als die Polizei gegen die Demonstrierenden aufmarschierte, vor allem die des Kairoer Traditionsclubs al-Ahly, der in Ägypten als Speerspitze der Revolution von 2011 bezeichnet wird. Knapp ein Jahr später, im Februar 2012, kam es beim Spiel gegen den Erzrivalen al-Masry im Port-Said-Stadion zu einer der gewalttätigsten Ausschreitungen der Fußballgeschichte: Nachdem al-Masry das Spiel mit 3:1 gewonnen hatte, wurde der Gästeblock gestürmt und die Anhänger von al-Ahly mit Steinen, abgebrochenen Flaschen und Messern attackiert. 74 Menschen wurden getötet, knapp tausend verletzt, mehrheitlich Anhänger von al-Ahly.
Viele Beobachter vermuten einen politischen, keinen sportlichen Hintergrund. Denn, so die Frage, welche Gründe gäbe es für einen Fußballfan, nach einem Sieg die Anhänger des gegnerischen Teams derart zu attackieren? Tatsächlich hatte sich die Polizei nach Ausbruch der Krawalle zurückgezogen. Viele Insider sprechen von einem Racheakt und dem Versuch, potenzielle Oppositionsherde einzuschüchtern. In fast allen ägyptischen Großstädten kam es anschließend zu Protesten und Angriffen auf staatliche Behörden und Polizeistationen.
So weit zu den heroischen Seiten der Fankultur, die aber auch deutliche Leerstellen hat: Der Männlichkeitskult vieler Gruppierungen artikuliert sich nicht selten in offener Homophobie und latenter Frauenfeindlichkeit. Schwäche wird als weiblich interpretiert, »Fußball«-Männer müssen immer stark sein. Eine der Ausnahmen bildet die »Schickeria« des FC Bayern München, die sich nicht nur gegen Rassismus, sondern auch gegen Homophobie und Sexismus engagiert. In vielen anderen Ultra-Gruppierungen sind homophobe Gesänge aber immer noch Usus und Teil einer Macho-Kultur.
Mit der Weltmeisterschaft in Katar könnte der politische Protest gegen das Großereignis des kommerzialisierten Fußballs neuen Aufwind bekommen. Und in Deutschland gibt es Vereine, die zu den großen Profiteuren gehören: Etwa der FC Bayern, der sich von der staatlichen Fluggesellschaft Qatar Airlines großzügig sponsern lässt und dessen Vorstandsetage Kritik an der WM in Katar regelmäßig zurückweist.
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