Keine Zukunft, keine Alternativen
von Ingo Schmidt
Der russische Einmarsch in der Ukraine bot den Regierungen der EU-Länder die Gelegenheit, Einigkeit zu demonstrieren. Gegen das autokratische Putin-Regime werde das demokratische Europa zusammenstehen. Die praktische Antwort waren Sanktionen gegen Russland, insbesondere der Import von Öl, Gas und Kohle sollte schnellstens heruntergefahren und dann ganz gestoppt werden.
Aber schon bevor es richtig losging, meldeten Regierungen, die auf die Schnelle keine Alternativen zu russischen Energieimporten finden konnten, Bedenken gegen die Sanktionspolitik an. Brüssel erklärte tapfer, Europa werde sich nicht spalten lassen. Es klang wenig überzeugend. Spaltungen, die schon vor dem Ukrainekrieg bestanden haben, bestimmen seither, in teils modifizierter, teils verschärfter Form, das politische Tagesgeschäft.
Regierungsmehrheiten zu finden, wird zunehmend schwierig. Quer durch die EU konkurrieren radikale Mitte und neue Rechte um Mehrheiten für eine Vorwärts-in-die-Vergangenheit-Politik. Es scheint als habe die EU das Ende ihrer Geschichte erreicht und löse sich nur deshalb nicht auf, weil sich selbst die schärfsten EU-Kritiker keine Alternative vorstellen können.
Schulden und Nationalismus
Als die Inflationsraten nach den ersten Corona-Lockdowns im Sommer 2020 zu steigen begannen, wurden erste Forderungen nach einem Ende der ultralockeren Geldpolitik laut, mit der der damalige EZB-Präsident Draghi die Euro-Krise 2012 nicht gelöst, aber zumindest eingedämmt hatte. Seit Beginn des Ukrainekriegs sind die Inflationsraten weiter gestiegen. Zinssteigerungen, von denen allgemein angenommen wird, dass sie zu Rezession und steigender Arbeitslosigkeit führen werden, lassen sich seither politisch leichter durchsetzen – sie seien im Kampf gegen den russischen Autoritarismus leider nicht zu vermeiden.
Börsianer warnen vor einem Wiederaufflammen der Euro-Krise. Bei steigenden Zinsen sei die Refinanzierung der Schuldnerstaaten der EU gefährdet. Wenn es dann zur Rezession kommt, werden die Schulden weiter steigen. Und der Schuldendienst infolge steigender Zinsen noch viel mehr. Dabei werden auch die politischen Spannungen zwischen Gläubiger- und Schuldnerstaaten innerhalb der EU wieder aufbrechen und zu bitterem Streit über die Vergemeinschaftung von Schulden führen.
Zur Paralyse der EU tragen außer der ökonomischen Spaltung in Gläubiger- und Schuldnerstaaten eine Reihe politischer Spannungen und eine generelle Zunahme des Nationalismus bei. In Osteuropa erinnert sich nicht nur die politische Klasse daran, dass Angela Merkel 2015 eine große Zahl von Flüchtlingen aus Syrien willkommen hieß – und viele davon nach Osteuropa weiterschicken wollte. Also in jene Länder, in denen sich derzeit die meisten Flüchtlinge aus der Ukraine aufhalten.
Polen und Ungarn wehren sich gemeinsam gegen Drohungen aus Brüssel, ihnen die Mittel wegen ihrer antiliberalen Politik zu kürzen. Dafür sind sie sich in Sachen Außenpolitik spinnefeind. Ungarn fährt gegenüber Russland einen kompromisslerischen Kurs und wird zu einem Umschlagplatz der von China nach Europa führenden Neuen Seidenstraße.
Polen hat sich von entsprechenden Plänen verabschiedet und fährt zusammen mit den baltischen Staaten einen harten proamerikanischen Kurs, um der ökonomischen und politischen Dominanz Westeuropas etwas entgegenzusetzen. Das führt aber nicht zu Austrittsbestrebungen. Dazu ist Osteuropa eben doch zu abhängig von Geld aus Brüssel und den Investitionen westlicher Konzerne.
Neue Rechte und Radikale Mitte
In Osteuropa wurde der Nationalismus früher als in anderen Teilen Europas zur bestimmenden politischen Ideologie. Nach Jahrzehnten der Bevormundung durch Moskau hofften viele Osteuropäer, in der EU als Gleiche unter Gleichen anerkannt zu werden. Und Anschluss an westliche Lebensstandards zu erlangen. Doch sie waren bald wieder zweitklassig, ökonomisch und politisch.
Nach den, wenngleich unterschiedlichen, Enttäuschungen über sowjetischen und kapitalistischen Internationalismus blieb nur noch die Rückbesinnung auf die Nation als identitätsstiftende Ideologie, da keiner der osteuropäischen Staaten wirtschaftlich auf eigenen Füßen stehen kann.
Ohnmachtsgefühle gegenüber den anonymen Kräften des Weltmarkts und der Brüsseler EU-Bürokratie haben sich mittlerweile in allen Teilen Europas ausgebreitet. Der Brexit war die bislang dramatischste Folge dieses neuen Nationalismus. Jüngst hat er der Neuen Rechten zu Wahlsiegen in Italien und Schweden verholfen.
Gemein ist den Nationalisten aller Länder der Ruf nach nationaler Souveränität. Selbst in Ländern, die weit oben in der internationalen Machthierarchie rangieren und von der Unterordnung und Ausbeutung anderer Länder, genauer: der arbeitenden Klassen in den untergeordneten Ländern profitieren. Die Frage nach einer anderen Gestaltung der internationalen Wirtschaftsordnung wird nicht gestellt. Alternativen werden nicht angeboten. Insofern tragen sie zum Fortbestand der bestehenden Ordnung bei, egal wie sehr sie über diese schimpfen.
Allerdings erschweren sie das Management dieser Ordnung, weshalb sich die Parteien der radikalen Mitte immer mehr als unverzichtbare Technokratie gerieren. Und damit Wasser auf die Mühlen der neuen Rechten lenken. Nicht ohne Grund fragt man sich in Osteuropa, worin sich die Verwalter der Marktwirtschaft von den Planbürokratien der sowjetischen Vergangenheit unterscheiden. Die einen mussten die Soll-Zahlen immer wieder an dahinter zurückbleibende Ist-Zahlen anpassen. Die anderen müssen ihre Schuldengrenzen immer wieder nach oben korrigieren, weil sich die kapitalistische Wirtschaft heute nur durch immer mehr Schulden vor dem Zusammenbruch retten lässt.
Es gibt keine Alternativen mehr
Eine von Ohnmachtsgefühlen und Zukunftsängsten geprägte Zeit gebiert die Sehnsucht nach einer vermeintlich besseren, zumeist national vorgestellten Vergangenheit. Wenn sich aber am Zustand nichts ändert, kippt ohnmächtige Angst in ohnmächtige Wut. Es ist diese negative Energie, die die neue Rechte antreibt.
Die Vergangenheit enthält aber auch Alternativen, die der Entwicklung Europas eine andere Richtung geben könnten.
– Michail Gorbatschow etwa schlug ein gemeinsames Haus Europa vor. Der blumige Name knüpfte durchaus realpolitisch an die sozialdemokratische Entspannungspolitik der 1970er Jahre an und eröffnete Perspektiven auf eine Zukunft jenseits des Kalten Krieges. Der Vorschlag fand aber weder unter den alten Machteliten des Westens noch unter den neuen Eliten des Ostens Unterstützung. Massenbewegungen, die sich an den Bau eines solidarischen Hauses Europa gemacht hätten, gab es ebenfalls nicht. Stattdessen gab es eine NATO-Ostweiterung, die sich prägend auf die EU-Osterweiterung auswirken sollte. Der Westblock erweiterte sich um östliche Vorfeldstaaten.
– Jürgen Habermas plädierte für einen europäischen Verfassungspatriotismus. Die EU sah er als Chance, nationalstaatliche Konkurrenz und nationalistische Ideologien zu überwinden. Notwendig sei dafür eine demokratische Legitimation, die durch eine Europäische Verfassung zu gewinnen sei. Der schließlich vorgelegte Verfassungsentwurf war ein bürokratisches Monster. In den Ländern, in denen die nationalen Verfassungen Volksabstimmungen erforderten, konnte sie nur scheitern. Der schließlich als Ersatz verabschiedete Vertrag von Nizza bestätigte den Charakter der EU als bürokratische Verwaltung kapitalistischer Interessen über die Köpfe der arbeitenden Klassen hinweg.
– Sozialdemokratische Parteien warben für ein Europäisches Sozialmodell, das der EU, wenn schon nicht demokratische, dann wenigstens soziale Legitimation durch materielle Absicherungen verschaffen würde. Angesichts der riesigen Einkommensunterschiede, insbesondere nach der Osterweiterung, war klar, dass ein Umverteilungsmodell nach Vorbild nationaler Sozialstaaten nicht in Frage kam. Es hätte die Abgaben in den reichen Ländern in solche Höhen getrieben, dass sich dort sofort Mehrheiten für einen Ausstieg aus der EU gefunden hätten. Ein Abbau der Unterschiede zwischen den Bruttoeinkommen kam aber auch deshalb nicht in Frage, weil gerade diese Unterschiede den Aufbau profitabler Produktionsnetzwerke in der EU ermöglichten.
– Linke haben die Schwächen der Vorschläge von Gorbatschow, Habermas und den europäischen Sozialdemokraten klar erkannt. Ihre eigenen Vorschläge, zeitweilig im Rahmen der Euromärsche und des Europäischen Sozialforums intensiv diskutiert, hatten zumeist einen ebenso technokratischen Charakter wie Brüsseler Direktiven. Seitdem der Irakkrieg die Bewegung für eine andere Globalisierung einschließlich ihrer europäischen Ableger beerdigt hat, zerreißt sich die Linke zwischen den Polen eines kosmopolitischen Liberalismus mit freundlichem statt neoliberalem Antlitz und einer nationalstaatlichen Souveränität mit sozialem Antlitz.
Ingo Schmidt ist Ökonom und leitet das Labour Studies Program der Athabasca University in Kanada.
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