Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 11/2022

Aktivist:innen der Klimagerechtigkeitsbewegung melden sich mit zwei Büchern zu Wort
von Gerhard Klas

Ende Gelände: We shut shit down. Hamburg: Edition Nautilus, 2022. 208 S., 16 Euro

Zucker im Tank (Hrsg.): Glitzer im Kohlestaub. Vom Kampf um Klimagerechtigkeit und Autonomie. Berlin/Hamburg: Assoziation A, 2022. 416 S., 19,80 Euro

Die Klimabewegung hat die 68er Bewegung und die gegen Atomkraftwerke längst in den Schatten gestellt, was ihre Mobilisierungsfähigkeit angeht. Sie reicht von Nichtregierungsorganisationen bis hin zu Kleingruppen und Zusammenhängen, die fossile Infrastruktur und Autobahnen blockieren.
Zwei Netzwerke, die den radikaleren Teil der Klimabewegung repräsentieren – Ende Gelände und Zucker im Tank – sind jetzt mit Büchern an die Öffentlichkeit getreten, in denen sie ihr Handeln reflektieren und ihre Ideen zur Diskussion stellen.

Konzerne, die meisten Politiker, Polizeibehörden und Verfassungsschutz betrachten sie als Staatsfeinde, viele Umweltschützer sehen sie als moderne Heldinnen und Helden: Klimaktivist:innen, die mit ihren Aktionen dosierte Gesetzesbrüche begehen.
Mit ihrer ersten Kampagne des zivilen Ungehorsams 2015, der Besetzung der Braunkohlegrube Garzweiler im Rheinischen Revier, hat Ende Gelände den Braunkohletagebau als schmutzigsten fossilen Energieträger ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gebracht. Kein Medium konnte sich den Bildern verweigern: Mehr als tausend Aktivistinnen und Aktivisten in weißen Maleranzügen waren in die Grube gestürmt und hatten riesige Braunkohlebagger blockiert – kleine weiße Punkte vor riesigen Stahlkolossen, David gegen Goliat.
Diskursintervention heißt diese Taktik beim Autorenkollektiv von Ende Gelände. Und diese Intervention war durchaus erfolgreich: Vielleicht nicht legal, aber legitim sei der Protest, meinte sogar der ARD-Energieexperte damals in der Tagesschau. Bis zur Pandemie folgten Dutzende dieser Aktionen, auch im Braunkohlerevier der Lausitz.

Der verfehlte Brückenschlag
Das Buch von Ende Gelände, We shut shit down, ist mehr als eine Hommage. Ja, es gibt einige packende Erlebnisberichte, die die Begeisterung der Aktivsten angesichts der kollektiven Erfahrungen zum Ausdruck bringen, einschließlich des Berichts einer Rollstuhlfahrerin, die sich mit anderen Aktivis­t:innen mit Handicap beteiligte. Aber es überwiegen die nachdenklichen Kapitel, in denen es etwa um die durchaus erfolgreiche Annäherung an die Bewohner der Dörfer geht. Misslungen hingegen sind die Versuche, mit Gewerkschaften und Belegschaften der fossilen Industrie in ein konstruktives Gespräch zu kommen.
Dabei betonen die Aktivist:innen immer wieder, dass nicht die Beschäftigten den Preis der verfehlten Energiepolitik bezahlen sollen. Die Vermutung liegt nahe, dass vor allem auf Seiten der Belegschaften und ihrer gewerkschaftlichen Vertretung Sprachlosigkeit vorherrscht. Viele von ihnen haben offensichtlich verlernt, zwischen ihren Bedürfnissen als abhängig Beschäftigte und den Profitinteressen von RWE & Co. zu unterscheiden.
Es geht um Klimagerechtigkeit – ein Begriff, der in beiden Büchern ausführlich diskutiert wird. Denn nicht alle Menschen sind gleichermaßen betroffen. Ob sich die Auswirkungen der Klimaerhitzung abfedern lassen, ist auch eine Frage von arm und reich, von Süd und Nord. Ökologische und soziale Fragen seien untrennbar miteinander verknüpft und innerhalb eines kapitalistischen Wirtschaftssystems nicht zu lösen.

Migration und Klimabewegung
In einem Kapitel reflektieren mehrere Autor:innen die privilegierte Situation vieler Aktivist:innen im Hinblick auf Bildung und Hautfarbe, denn die meisten von ihnen kommen aus dem weißen Bildungsbürgertum. Mitstreiter:innen mit Migrationshintergrund und ungesichertem Aufenthaltstitel sowie Hauptschüler sind in einer deutlichen Minderheit. Einen Grund dafür sehen die Autor:innen im höheren Repressionsrisiko, denn die genannten Gruppen hätten Polizeigewalt und juristischer Verfolgung weniger Ressourcen entgegenzusetzen.
Insgesamt versteht sich das Buch von Ende Gelände als Debattenbeitrag, es ist angenehm zu lesen, es gibt keinen erhobenen Zeigefinger. Eine Ausnahme bildet das Kapitel zu Kolonialismus und Klimagerechtigkeit. Hier legt die Autorin zu Recht die Kontinuität des Kolonialismus und seine Rolle in der Klimakrise offen und macht auf die Tatsache aufmerksam, dass der Kampf gegen Umweltzerstörung und Klimaerhitzung seinen Ursprung nicht, wie vielfach angenommen, im globalen Norden, sondern im globalen Süden hat.
Aber dann stolpert sie in die Falle des »liberalen Antirassismus«, macht Rassismus vor allem zu einer individuellen Schuldfrage. »Seit wann bin ich mir bewusst, dass ich weiß bin und was tue ich jeden Tag dagegen?«, fragt die Autorin. »Ihr weißen Deutschen mit Nazi- und Colonizer-Hintergrund habt mit ziemlich hoher Sicherheit auch Eigentum in eurem Familienerbe, dass durch gewaltvolle Kolonialisierung und durch Naziverbrechen in euren Besitz gekommen oder auf eurem Konto gelandet ist – sei es Erbe von Immobilien, Industrien, Geld oder Einflussmöglichkeiten in wichtigen gesellschaftlichen Entscheidungsposten«, schleudert sie ihren weißen Mitstreiter:innen entgegen – voller Ignoranz gegenüber den Klassenverhältnissen in diesem Land.
Weniger Pauschalisierung und identitärer Individualismus, dafür mehr Sinn für die großen Schnittmengen feministischer, antirassistischer und antikapitalistischer Kämpfe hätten dem Kapitel gut getan.

Vorreiter des Wandels
Auch Glitzer im Kohlestaub, das Buch von Zucker im Tank (ZimT), die mit gut geplanten Kleingruppenaktionen in Erscheinung tritt, reflektiert über Kolonialismus im Kontext der Klimabewegung – aber weitaus sachlicher. Die Autor:innen wie auch die Gruppe selbst verstehen sich unabhängig von ihrer Hautfarbe als Teil einer globalen Widerstandsbewegung, denn Klimaaktivismus sei keine exklusive Angelegenheit einer weißen, akademischen Mittelschicht. Sie verweisen auf die großen Bewegungen im globalen Süden, die schon seit vielen Jahrzehnten gegen Umweltzerstörung, Verdrängung und Vernichtung ihrer Lebensgrundlagen kämpfen und dafür häufig mit dem Leben bezahlen – meist ohne dass die hiesige Medienöffentlichkeit davon Notiz nimmt.
ZimT präsentiert eine wahre Kapitelflut: Auf insgesamt 400 Seiten schaffen es wenige Kapitel auf mehr als zehn Seiten. Ausführlich geht es um Waldbesetzungen, Polizeirepression, Strafverfolgung und die Konsequenzen. Die Aktivist:innen wollen sich nicht aufopfern, setzen auf Solidarität, auch um ihren eigenen Burnout zu verhindern. Die Qualität der Kapitel schwankt.
Im Beitrag über den Weltklimagipfel in Kopenhagen 2009 wird etwa der bemerkenswerte Widerstand auf dem Gipfel selbst völlig ausgeklammert. Dabei hatten sich nicht nur einige Nichtregierungsorganisationen, sondern die gesamte bolivianische Regierungsdelegation einem lautstarken Protestmarsch durch die Sitzungssäle und Foyers anschlossen, das Kongresszentrum schließlich verlassen und den Gipfel damit öffentlichkeitswirksam delegitimiert. Das Buch erweckt aber den Eindruck, die Teilnehmenden am Weltklimagipfel seien eine homogene, eher zu bekämpfende Gruppe – dabei ist die Institution von tiefen Interessengegensätzen durchzogen.
Viele Artikel sind originell und lebendig geschrieben, bereiten auch sprachlich große Freude bei der Lektüre. Zum Beispiel die über einen Gerichtsprozess. Wie einst Ferdinand Lassalle, ein Vertreter der deutschen Arbeiterbewegung, nutzen ZimT-Aktivist:innen solche Termine für politische Aufklärung: »Müssen wirklich diejenigen bestraft werden, die durch ihre Aktion einen kleinen Teil des Schadens verhindert haben, den der fossile Dinosaurier RWE jeden Tag anrichtet?«, lautet vor Gericht eine ihrer Fragen, mit denen sie Richter und Staatsanwälte herausfordern.
Sie formulieren zum Teil mehrere hundert Seiten Beweisanträge, benennen Expert:innen als Zeugen, berufen sich auf den Paragraphen des »Rechtfertigenden Notstands« aus dem Strafgesetzbuch. Manchmal konnten sie damit ein paar Schlagzeilen machen, ein Richter erteilte RWE in der Urteilsbegründung sogar einen Rüffel. Aber moralische Appelle haben RWE und Konsorten bisher nicht geläutert – ebensowenig wie Beiträge in der Tagesschau.

Eine solidarische Ökonomie
Ende Gelände und ZimT setzen auf Commons und solidarische Ökonomie. Ökosozialismus als Alternative zum Kapitalismus wird nicht explizit diskutiert, wenn auch eine Veränderung der Lebens- und Produktionsweise für notwendig erachtet wird. Einigkeit besteht im Einsatz der Mittel: Aufbau gesellschaftlicher Gegenmacht statt Lobbypolitik, Sabotage statt faule Kompromisse. Das ist die Konsequenz, die sie aus zahlreichen gescheiterten Versuchen ziehen, die Klimaerhitzung mit den klassischen Mitteln des Protests und der Einflussnahme auf die Mainstream-Politik zu stoppen.
Denn trotz des Pariser Klimaabkommens steigen die Emissionen der Treibhausgase unaufhörlich weiter, zusätzlich befeuert durch den Krieg in der Ukraine. Wer wissen will, welche Möglichkeiten es gibt, diese Entwicklung jenseits von Wahlen und individuellen Kaufentscheidungen zu bremsen, kommt an der Lektüre dieser beiden Bücher nicht vorbei. Ähnlich wie die Bewegung gegen Sklaverei und Rassismus oder für Frauenrechte vor mehr als hundert Jahren artikulieren sich hier Aktivist:innen, die Vorboten eines tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandels sind.

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